Katharina J. Cichosch
High & Low
: Wenn Räume in Räume reingrätschen

Andrea Grützner: „Haus im Taumel“ Foto: Frank Bluemler

Ist das architektonische Dissoziation? Es gibt da diesen Kippmoment, der unvermittelt eintreten kann (manchmal lässt er sich aktiv herbeiführen), wenn man sich in einem realen Raum befindet: Plötzlich erscheinen die Wohnung, der öffentliche Platz in einer anderen Zusammensetzung, ohne dass sich objektiv etwas verändert hätte – die messbaren Parameter stimmen, alle Elemente sind vorhanden, doch tut sich ein „Uncanny Valley“in der Wahrnehmung auf.

Eine Art luzider Zustand, womöglich die Reaktivierung eines Traums, der sich in den Wachzustand gerettet hat und dessen Abbilder von Räumen plötzlich wirklicher erscheinen als der reale Raum selbst. Plötzlich fächert sich der Raum in zwei oder mehr Optionen, zwischen denen man theoretisch hin und her switchen könnte. Die Assoziation „Das Magische Auge“ wäre sicher nicht die schlechteste.

Eine ganz ähnliche Erfahrung, nicht mit dem dreidimensionalen, aber dem Bildraum vermitteln die Fotoarbeiten von Andrea Grützner, die jetzt in der Frankfurter Galerie Schierke Seinecke zu sehen sind („Haus im Taumel“, bis 17. 8.). Es sind auf den ersten Blick so elegante wie anziehend farbige Motive, die die Künstlerin in einem sächsischen Gasthaus mit dem Namen „Erbgericht“ aufgenommen hat, allerdings erkennt man den Raum hier kaum noch. Man könnte an digitale Collagen denken, doch so leicht macht es sich Grützner nicht.

Ihre aktuellen Arbeiten lassen sich alle auf jeweils ein einziges Motiv zurückführen. Die Künstlerin hat viel Zeit vor Ort verbracht, ihn immer wieder aufgesucht und jetzt noch einmal abschließend fotografiert. Dabei dreht sie den eigenen Blick um 90 Grad, stellt Motive auf den Kopf oder sucht Ausschnitte, die eine anekdotische Referenz ins Leere laufen lässt. Daneben nutzt Grützner farbige Blitze, die den drei- in einen verführerischen zweidimensionalen Raum von grafischer Anmutung verwandeln. Ein Vorgang, den historisch wie persönlich so stark geprägten Ort zu ent- und im simultanen Schritt neu einzufärben.

Katharina Cichosch, Kunst- und Popkritikerin, lebt in Frankfurt am Main.

Eine andere Form der Raumauffächerung lässt sich aktuell eine Zugstunde weiter ent­decken. Wobei man eher schon von Raumnahme sprechen muss: Im Kunstmuseum Marburg zeigt Julia Krause-Harder erstmals ihre 250 Quadratmeter große Weltkarte (bis 8. 9.). Drei Jahre lang strickte, knüpfte und knotete die Künstlerin aus dem Frankfurter Atelier Goldstein ihre subjektiv-kartografische Ordnung aus Textilien, Stoff und Garn, Kleidungsstücken, Leder, Werbeplanen, die sich nun über mehrere Kontinente die Wand entlang bis auf den Boden des Ausstellungsraums ausbreiten. Ein wilder Quilt, aber mit konkreter Anbindung an die Welt, die er repräsentiert.

Foto: privat

Die Maßstäbe und Relationen stimmen. Und trotzdem ist die künstlerische Auswahl eben vor allem radikal subjektiv: Europa ist bei Krause-Harder ein ziemlich bunter Flickenteppich, an Kanada mit seinen blau-weißen Weiten scheint die Künstlerin besonders viel Freude gehabt zu haben. Die applizierten Dinosaurier verweisen auf einen weiteren Schwerpunkt ihrer Arbeit – man kann die Urtiere auch im realen Raum entdecken, mehrere Skulpturen aus Krause-Harders fantastischem Materialkonvolut ergänzen die Schau.