Korrekte Reihung hoch zehn

Kleines Zug-Einmaleins: Die Deutsche Bahn lernt die Wahrscheinlichkeitsrechnung für Verspätungen

Foto: Zeichnung:Rattelschneck

Von Oliver Domzalski

Boah, echt schwer wieder mal!“ Stöhnend schaut Malte auf das Aufgabenblatt. Heute steht an der Führungskräfteakademie der Deutschen Bahn in Bad Neuenahr-Ahrweiler die Zwischenprüfung im Fach Mathematik an.

Maltes Kommilitonin Julia schaut zu ihm rüber und flüstert ein wenig maliziös: „Tja, sie haben ja gesagt, dass es viel um Wahrscheinlichkeitsrechnung gehen wird.“ Sie verkneift sich den Satz, dass sie sich gründlich vorbereitet hat, während Malte wohl mal wieder „verspätete Bereitstellung“ gespielt habe. Und Malte vertieft sich in die erste Aufgabe: „Ein ICE mit 14 Wagen. Wie hoch ist die statistische Wahrscheinlichkeit, dass die Wagen in korrekter Reihung, also von 1–14 einfahren?“

Beschiss beim Dreisatz zu den im Januar ungeöffneten Bordbistros

Nach der Klausur stehen Malte, Julia und einige andere Zukunftshoffnungen des Bahnmanagements zusammen. Malte ist immer noch aufgewühlt: „Ich hab mir zum Lernen vorher extra die Aufgaben der letzten fünf Jahrgänge besorgt. Die waren alle vom Prinzip her gleich. Und jetzt? Völlig anders! So ein Beschiss! Konntet ihr diesen Dreisatz lösen? Wie war das? ‚Wenn im Januar 80 Prozent der Bordbistros geschlossen sind – wie viele öffnen dann voraussichtlich erst im kommenden Jahr wieder?‘ Wie soll man denn das überhaupt angehen?“

Allgemeines Kopfschütteln. Julia fragt: „Kennt jemand die ‚Mehdornsche Unschuldsvermutung‘? Was sind denn das für Fragen?!“ Linus, der ewige Besserwisser, kennt sich natürlich aus: „‚Minus mal minus ergibt Kannnixdafür. Das war der Grundsatz von diesem Mehdorn, für den der Vorname 'Bahnchef’ erfunden wurde. Aber ich …“ Er kann nicht ausreden, weil Anja sich ebenfalls aufregt: „Was folgt für Bahnreisende aus der Regel ‚Punkt- vor Strichrechnung‘? WTF?!“ Julia: „Na, das fand ich logisch. ‚Punkt‘ steht für Standort, 'Strich’ für Strecke. Man soll also lieber bleiben, wo man ist, statt mit der Bahn zu verreisen. Aber das ist schon ganz schöne Nestbeschmutzung. Was ist denn bei denen da oben los?“

Linus grinst: „Wenn ich mal zu Wort komme, erklär ich’s euch. Mein Papa ist ja bei der Bahn. Der hat mir erzählt, dass der Konzern vor ein paar Monaten eine Mathematikerkommission damit beauftragt hat, wissenschaftlich fundierte Handlungsempfehlungen zur Verbesserung der Performance zu erarbeiten. Leider ging der Schuss irgendwie nach hinten los. Es ist jetzt naturwissenschaftlich belegt, dass eine grundlegende Verbesserung des Angebots mathematisch unmöglich ist. So lässt sich das umgekehrt reziproke Verhältnis von Reiseanlass und Verspätungssumme zwar eindeutig feststellen, aber weder erklären noch auflösen. Es gilt eben: ‚Wenn’s egal ist, bringen wir Sie pünktlich ans Ziel. Aber wenn Sie zu einer Beerdigung müssen, ein Vorstellungsgespräch oder Karten fürs EM-Finale haben, dann haben Sie leider verloren.‘“

„Ja, und dann?“

„Na, damit das viele Geld für die Kommission nicht ganz rausgeschmissen ist, haben sie aus den Ergebnissen unsere Aufgaben gebastelt.“ Wütend stößt Malte hervor: „Diese Schweine!“ Und Julia fragt in die Runde: „Was hattet ihr bei der Wagenreihung raus?“ Anja sagt etwas unsicher: „So ungefähr 1 zu 90 Milliarden. Sie wollten zum Glück ja nur die Größenordnung wissen.“

Linus weiß: „Gar nicht mal schlecht. Das Ergebnis ist eins zu siebenundachtzigmilliardeneinhundertachtundsiebzigmillionenzweihundertneunzigtausend. Es ist also siebentausend Mal wahrscheinlicher, einen Sechser im Lotto zu haben, als einen ICE mit korrekter Wagenreihung zu finden. Mein Vater hat erzählt, dass deshalb künftig nicht mehr die geänderte Wagenreihung durchgesagt wird, sondern die korrekte. Und zwar von Franziska Reichenbacher, der Lottofee, samstags zwischen ‚Sportschau‘ und ‚Tagesschau‘ in der ARD.“

Linus registriert das plötzliche Schweigen in der Runde und schaut fragend. Malte zischt: „Du … du … kanntest die Fragen?! Dann hat dein Alter dir doch sicher auch die Lösungen gegeben!“

Linus lacht überlegen: „Seh ich aus, als bräuchte ich die? Ich hab doch schon den 1A-Vermögenstipp. Wenn man in eine Bahncard 100 investiert, bekommt man für alles, was schiefgeht, Erstattungen. Da macht man Jahr für ein Jahr ein fettes Plus.“

Und dann lenkt er schnell ab: „Bei manchen Aufgaben gibt es ja gar nicht die eine Lösung. Da geht es um offene Antworten. Und um Fantasie. Nicht meine Stärke. Hat jemand was bei Verspätungsdurchsage in mathematischer Form?“

Jetzt haut Matteo, der Klassenclown, endlich mal einen raus: „Sind wahrscheinlich meine einzigen Punkte. Ich hab geschrieben: 'Wegen einer defekten y-Achse vergrößert sich t um den Faktor x.“'Beifälliges Kichern.

Malte ergänzt: „Ich hab geschrieben, dass man die Ausreden künftig einfach per Zufallsgenerator kombinieren sollte, damit es nicht so langweilig wird: ‚Das defekte Signal vor uns ist noch nicht da, weil es in einem verspäteten Zug sitzt.‘“

„Und hat jemand was bei der Frage ‚Welche simple mathematische Regel man bei der zeitlichen Planung von Bahnreisen immer beachten soll, statt sich stur auf Fahrpläne zu fixieren?‘“

Spaß mit den Zugnamen von berühmten Mathematikern

Julia nickt: „Ich weiß nicht, ob sie das meinten, aber ich hab: ‚Immer eins im Sinn.‘ Wobei die Eins bei Entfernungen unter 50 Kilometer für 1 Stunde steht, darüber für 1 Tag. Aber sind euch Mathematikernamen für neue ICEs eingefallen? Mit Begründungen?“

„Ja, das hat wenigstens noch Spaß gemacht“, meint Matteo. „Ich hab Heisenberg (mit unscharfem Fahrplan), Schrödinger (Die Klimaanlage macht es gleichzeitig brüllend heiß und bitterkalt) und natürlich Archimedes (Jeder Zug verliert unterwegs so viel Zeit, wie die von ihm zurückgelegte Strecke im Bau war).“

Linus haut sich auf die Schenkel: „Also, wenn die Prüfer Humor haben, hast du bestanden! Aber …“ – lange Kunstpause – „… es ist sowieso niemand durchgefallen. Weil die Prüfung nämlich ungültig ist.“

Malte fährt herum. „Du verarschst mich doch! Wieso ungültig? Dann hätte ich ja noch Hoffnung!“ Linus grinst: „Es gab eine Frage, in der wir die Chancen auf erfolgreiches Umsteigen in Kassel-Wilhelmshöhe berechnen sollten. Und die ist nicht erlaubt.“

„Wieso das denn?“

„Tja. Da ist ihnen was durchgerutscht. Die Prüfungskommission hat nämlich die Begriffe ‚Deutsche Bahn‘ und ‚Anschlusszug erreicht‘ für logisch inkompatibel erklärt. Sie zu kombinieren sei eine genauso unzulässige Operation, wie durch null zu teilen. Das ist seither ein mathematisches Gesetz. Also kann jetzt jeder die Prüfung anfechten. Wieder mal’ne Panne bei der Bahn, schätze ich.“