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Eine Geschichte voller Schmerz

Theatralisch, melancholisch, politisch: Zu Besuch auf dem Drag Ball in Georgiens Hauptstadt Tiflis. Hier wird die queere Selbstdarstellung gefeiert. Doch ein geplantes Gesetz kriminalisiert gleichgeschlechtliche Beziehungen

Von Tornike Mandaria

Es ist zehn Uhr abends. Am linken Flussufer von Tiflis stehe ich in der Schlange vor einem ehemaligen Restaurant, das sich in einen Nachtclub verwandelt hat – dem Mtkvarze, einem der pulsierenden Hotspots des Nachtlebens der Stadt.

Ein Mädchen drückt mir einen Stempel auf die Hand und klebt Aufkleber auf die Kamera meines Handys. Auf ihnen steht, dass das Fotografieren streng verboten ist. Nur eine Handvoll zugelassener Fotografen darf auf der Veranstaltung Fotos machen, und die Bilder müssen von den Beteiligten vor der Veröffentlichung genehmigt werden.

Ich habe das Gefühl, dass hier etwas höchst Geheimnisvolles geschieht. Doch es ist einfach nur der Drag Ball. Die Show beginnt erst in zwei Stunden. Bis dahin versammeln sich die Leute auf dem Balkon mit Flussblick, rauchen und plaudern. In den Gesprächen mischt sich persönlicher Klatsch mit Diskussionen über die politischen Unruhen, die das Land in den letzten vier Monaten erfasst haben.

Auf der Bühne in der Mitte warten ihre Königinnen. Jubel und Applaus erfüllen den Raum, als die Menge die heutige Gastgeberin Otaraant Queer begrüßt. Von einer erhöhten Plattform aus ruft sie den Anwesenden zu: „Geht wählen!“ Denn in Georgien geht es beim Drag nicht nur darum, Spaß zu haben. Er ist lautstark politisch, denn Georgien erlebt dramatische Veränderungen und nähert sich geopolitisch Russland an.

Die Regierungspartei hat die homophobe Rhetorik vollständig übernommen

Das Land wurde unlängst durch Verhaftungen von Ak­ti­vis­t:in­nen und Jour­na­lis­t:in­nen sowie durch die gewaltsame Niederschlagung von Demonstra­tionen erschüttert; es waren die größten Unruhen seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion im Jahr 1991. Im Mittelpunkt dieser Proteste steht das „Gesetz über ausländische Agenten“ oder, wie die Menschen es hier nennen, das „russische Gesetz“, eine Nachahmung der Kreml-Gesetzgebung, die sich gegen die Zivilgesellschaft und unabhängige, durch westliche Gelder finanzierte Medien richtet. Ohne diese Hilfe würde die georgische Demokratie nicht weiterleben können, da die Institutionen von der Regierung kon­trolliert werden.

Aber es gibt noch ein weiteres „russisches Gesetz“ – es zielt speziell auf LGBTQ-Personen ab. Der Gesetzentwurf sieht ein Verbot von Geschlechtsumwandlungen und Adoptionen durch LGBTQ-Personen vor, von aufklärerischem Unterricht an Schulen, der Darstellung gleichgeschlechtlicher Beziehungen im Fernsehen, von LGBTQ-Versammlungen und generell von „Versammlungen, die darauf abzielen, gleichgeschlechtliche Familien- oder Intimbeziehungen bekannt zu machen“.

Auf der Bühne des Drag Ball zündet Tarotmeisterin Fiona Fotos an – vom Milliardär und Gründer der regierenden Partei Georgischer Traum, Bidzina Iwanischwili, ebenso wie vom Bürgermeisters von Tiflis, Kakha Kaladse. Iwanischwilis Regierung ist seit zwölf Jahren an der Macht und hat eine gewalttätige Geschichte gegen die LGBTQ-Gemeinschaft zu verantworten. 2021 griffen dann Rechtsextreme die Tifliser Pride-Parade an, wobei allein über 50 Medienvertreter verletzt wurden. Im Jahr 2023 stürmten rechtsextreme Gruppen schließlich ein Pride-Festival vor dessen Beginn, verwüsteten es und stahlen Getränke und Yogamatten.

„War homophobe und geschlechterfeindliche Rhetorik früher eine Nische rechtsextremer Gruppen, so hat sie die Regierungspartei Georgischer Traum heute vollständig übernommen“, verlautbart das in Tiflis ansässige Democracy Research Institute. Die Regierungspartei will die Rechte von LGBTQ-Menschen nach dem Vorbild Russlands stark einschränken, obwohl dies gegen die EU-Vorschriften verstößt und Georgien ein EU-Beitrittskandidat ist.

Der Gesetzentwurf mit dem Titel „Familienwerte und Jugendschutz“ soll Ende September verabschiedet werden. Er verbietet Eheschließungen, Adoptionen und Pflegefamilien für nicht heterosexuelle oder Transgender-Personen. Es kriminalisiert geschlechtsverändernde Operationen, verbietet die Angabe eines anderen Geschlechts in offiziellen Dokumenten ebenso wie die Förderung einer nicht biologischen Geschlechtsidentifikation, gleichgeschlechtlicher Beziehungen oder von Inzest in Bildungsprogrammen, Sendungen, Werbung und öffentlichen Versammlungen.

Analysten vermuten, dass sich die georgische Regierung diesen Konservatismus zunutze macht, um bei der Wahl 2024 mehr Stimmen zu gewinnen. Einem Bericht aus dem Jahr 2022 zufolge ist die Homophobie in Georgien immer noch stark ausgeprägt. Zwar haben sich die Einstellungen zu dieser Frage in letzter Zeit etwas geändert, aber dies gilt vor allem für Frauen, während die Ansichten der Männer nahezu unverändert bleiben.

„Beide Gesetze machen unsere Arbeit unmöglich“, sagt ­Tamar Jakeli, Leiterin von Tiflis Pride, und weist darauf hin, dass die Organisatoren auf westliche Gelder angewiesen sind, deren Zahlung durch das „Gesetz über ausländische Agenten“ gefährdet wäre. „Wir würden zu Bürgern zweiter Klasse. Das betrifft außer der Pride jede Veranstaltung, die wir organisieren.“

Zurück im Mtkvarze, wo Nina Sublatti auftritt, die georgische Finalistin des Eurovision Song Contest 2015. „Gebt nicht auf, was ihr liebt!“, ruft sie dem Publikum zu. Die Drag Balls sind in Tiflis zu einem Ort geworden, an dem queere Selbstdarstellung gefeiert wird. 2018 begannen sie als DIY-Veranstaltung in einer Garage, durch die Pandemie wurden sie zwischenzeitlich gestoppt. David Gogischwili und Freunde nahmen sie 2022 im Rahmen der Tiflis Pride wieder auf, und die monatlichen Shows wurden schnell bekannt.

„Unsere erste Veranstaltung war in Minuten ausverkauft“, so Drag-Ball-Gründer Gogischwili. Doch die heutige Veranstaltung ist der vorerst letzte Drag Ball – danach wird er bis nach der Wahl im Oktober auf Eis gelegt. „Wir versuchen die Möglichkeiten für die Regierung und ihre Propagandamedien zu minimieren, uns, die Queers, in dieser Vorwahlzeit zu instrumentalisieren“, sagte Gogischwili.

Die Menge jubelt der in der Dragszene bekannten Lucrezia zu, als sie ihre Darbietung von Madonnas „secretprojectrevolution“ beendet und den Zuschauer:in­nen zuruft: „I want to start a revolution – seid ihr dabei?“ Der Drag sei in Georgien „mit politischer und emotionaler Bedeutung aufgeladen, im Gegensatz zum westlichem Drag“, erklärt David Gogischwili. „Es ist nicht nur bloße Unterhaltung, sondern eine Geschichte voller Schmerz. Queeren Menschen fehlt eine Plattform, um ihre Bedürfnisse zu äußern, da die antiwestliche Erzählung der Regierung den Wahlkampf ­dominiert.“

Lucrezia betont dagegen die Einzigartigkeit der georgischen Dragszene, die lokale Musik, Humor und Drama beinhalte. Im Gegensatz zu kommerzielleren Dragszenen anderswo sei sie in Tiflis theatralisch, melancholisch und politisch. Doch nun hat Lucrezia zum ersten Mal Angst. „Ich glaube, ich habe keine Kraft mehr, um weiterzukämpfen. Dabei bin ich kein Feigling. Aber ich fühle ich mich ein bisschen hoffnungslos“, sagt sie. „Ich sitze zugleich auf einer Bombe und auf einem Koffer.“

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