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Verschwimmender Mut

Kerstin Wichmanns Comic „Auf schwankendem Boden“ ist eine Familiengeschichte, die weitgehend ohne Frauen auskommen muss. Auch darum zweifelt sie am Erinnern selbst

Von Jan-Paul Koopmann

Früher oder später macht jede Kindheitserinnerung traurig. Irgendwo in jedem noch so zarten Gedanken ans Früher hält sich der Tod versteckt, der alte Schlawiner, um eben dann um die Ecke zu lugen, wenn man ihn so gar nicht gebrauchen kann.

In Kerstin Wichmanns Comic „Auf schwankendem Boden“ macht er das auf Seite 31. Da bekommt das seichte Sinnen über Ferien am IJsselmeer einen doch heftigeren Schlag durch die schlichte Bemerkung, dass diese familiären Segelurlaube aufgehört hätten, als der Vater starb.

Ganz unvorbereitet kommt das aber nicht. Schon über den allerersten Zeichnungen des Bandes – Gischt und Boot und Seemannsknoten – liegt ein Schleier des Unwirklichen. Sie sind schwer zu fassen und verblassen wortwörtlich in ihrer fast skizzenhaften Linienführung und der äußerst dezenten Kolorierung. Und eben darum geht es hier: um das Trügerische kultivierter Erinnerungen und weniger um Natur und Segelromantik.

Ausgehend von einem Spaziergang am Deich wirft Wichmann Schlaglichter auf die Väter und Großväter in ihrer Familie, später auch auf die Frauen. Um Opas Schwimmhaltung geht es etwa, mit dem Kopf und so viel Hals wie möglich über Wasser. Wichmann zeichnet diesen Körper präzise, fast naturalistisch, um dann zwei Seiten weiter zu gestehen, dass sie diesen alten Mann nie im Wasser gesehen habe, weil er schon viele Jahre tot ist.

Comic Kerstin Wichmann: Auf schwankendem Boden, Edition Moderne 2024, 168 S., 28 Euro

Aber erklären kann sie diese zur Bewegung gewordene Verkrampfung trotzdem: Sie ist Folge der brutalen Schwimmausbildung der Nazis, des Untergluckerns durch die Kameraden, und des existenziellen Bedürfnisses, um jeden Preis über Wasser zu bleiben.

Wichmanns Comic ist ihr Debüt und war in einer früheren Fassung ihre Abschlussarbeit an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW). Sie hat unmittelbar für Aufsehen gesorgt, wurde 2022 nominiert für den Comicbuchpreis der Berthold-Leibinger-Stiftung und in diesem Jahr für den Max-und-Moritz-Publikumspreis. Bemerkenswert ist das vor allem deshalb, weil der Band so wenig hip rüberkommt: Die aus Standbildern und Maschinenschrift komponierten Seiten wirken starr, dünn und eben verblassend.

Standbilder und Maschinenschrift lassen die Seiten absichtsvoll starr wirken

Die Qualität des Buchs liegt nicht allein in seiner unbestreitbaren atmosphärischen Dichte, oder Wichmanns verdienstvollem Beharren darauf, dass es hier keine Idylle ohne Weltkriegsbunker gibt, und dass die Alltagsgewalt der Nazis sich über Generationen hinweg in Körperbilder eingebrannt hat. Mehr als die Inhalte sind es deren klug gewählten Erscheinungsformen, die beeindrucken.Zum Beispiel dieser Opa mit dem Hals über Wasser: Aus dem Off referiert Wichmann die faschistische Umwidmung des Sportunterrichts, während sie im Bild verschwommene Jungs am Beckenrand zeigt. Dass Sport charakterbildend gesehen und auf Körperkult ausgerichtet war, erzählt sie auch, während in ihren Bildern die Riefenstahl-Ästhetik subtil übergeht ins vermeintlich zeitlose Symbolbild eines Sprungs vom Turm. Ob das schlicht Spuren in unserem Bildgedächtnis sind, oder Kontinuitäten im Denken? Wichmanns Comic gibt darauf keine Antwort. Sie führt diesen doch arg beklemmenden Befund einfach vor. Zum Nachfühlen.

Ähnlich verhält es sich auch mit den bereits erwähnten, spät auftauchenden Müttern. Dass die in Familiengeschichten grundsätzlich meist Nebenrollen spielen, weiß Kerstin Wichmann nicht nur – sie kann es auch erklären. Aber vor allem reproduziert sie es notgedrungen auch, indem sie ihnen ein gemeinsames, als „Die Frauen“ betiteltes Kapitel widmet. „Das Bild der liebenden Ehefrau und Mutter steht für den Inbegriff der Heimat“, heißt es da, und dass es umso schwieriger sei, ihren Biografien zu folgen. Abgelegte Nachnamen erschweren die Recherche. Frauen sterben und werden ersetzt im Stammbaum wie im Leben. Skandalisiert wird das nicht in „Auf schwankendem Boden“, sondern stattdessen wieder eindrücklich vorgeführt.

Wichmann zeichnet ein Foto ab, das in Laboe entstanden ist und ihren Urgroßvater mit einer anderen – ersten – Ehefrau zeigt. Es gibt nur dieses Bild von ihr und ein paar Informationen, die allesamt am Urgroßvater hängen: Sie soll bei der Entbindung eines Kindes mit diesem zusammen gestorben sein, aber der Mann hielt die Beziehung zu seinen ersten Schwiegereltern aufrecht. Das war’s. So legt „Auf schwankendem Boden“ in blassen Zeichnungen Ebene über Ebene, ohne sich am Ende zur monumentalen Historie aufzuplustern, sondern eine bescheiden ins Offene gewendete Studie über das Erinnern selbst zu bleiben.

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