Raus aus dem Gedankenkarussell

Beim dysfunktionalen Grübeln tauchen negative Gedanken immer wieder auf, ohne zu einer Lösung zu führen. Das kann Depressionen begünstigen. Unsere Autorin versucht sich an den Anti-Grübel-Strategien ihrer Therapeutin

Frau mit rotem Oberteil sitzt auf einem Stuhl in der Ecke und schaut weiße Wand an

Beim Grübeln schwingen oft Vorwürfe mit, die von einem zu hohen Anspruch an sich selbst kommen Foto: Kniel Synnatzschke/plainpicture

Von Katharina Federl

Es ist 1.32 Uhr, und ich gucke mit halb geöffneten Augen auf eine weiße Wand. Es ist nicht kalt in meinem Zimmer, trotzdem friere ich. Wahrscheinlich, weil ich so müde bin. Was soll das hier eigentlich, denke ich schlecht gelaunt. Ich könnte gerade in meinem warmen Bett liegen und tropischen Ameisen beim Nestbau zusehen. Oder nordfriesischen Wildgänsen bei der Paarung. Mein Geheimtipp aus den vergangenen Monaten: die Doku „Die Eifel und ihre Eulenhüter“. Die Erzählerin hat eine beruhigende Stimme, ich schlafe im Schnitt nach zweieinhalb Minuten ein.

Arte-Tierdokus helfen, wenn mein Kopf mal wieder keine Ruhe finden will und sich stattdessen mit Fragen beschäftigt wie: Fand der Freund der Freundin meines Freundes mich komisch, letztens auf der Party, als ich viel zu betrunken war? Warum habe ich nicht mehr Sport getrieben in letzter Zeit? Und überhaupt, mache ich eigentlich genug aus meinem Leben?

Als ich meiner Therapeutin von meinen Gedanken erzähle, hat sie sofort eine Diagnose parat. „Herzlichen Glückwünsch, Sie sind eine grandiose Grüblerin.“ Statt mir eine Goldmedaille um den Hals zu hängen, drückt sie mir eine Liste mit dem Titel „Grübelstoppstrategien für Zuhause“ in die Hand.

Habituelles Grübeln, also Grübeln als Gewohnheit, wird im Englischen als rumination bezeichnet. Das wiederum kommt aus dem Lateinischen und bedeutet „wiederkäuen“. Ähnlich wie bei der Kuh die Nahrung, kommen beim Grübeln bestimmte Gedanken immer wieder hoch – ohne zu einer Lösung zu führen. Samy Egli, Psychologe am Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München, spricht von drei Kriterien, die Grübelgedanken erfüllen müssen, um als solche zu gelten: Sie sind unkontrollierbar, abstrakt und negativ.

Wenn man die Kontrolle darüber verliert, worüber man sich Gedanken macht, und zugleich merkt, dass die Fragen zu abstrakt sind, um sie zu beantworten, sorgt das für schlechte Stimmung. Dieser Prozess wird auch dysfunktionales Grübeln genannt. Nimmt es Überhand, kann es zu einem großen ­Problem werden. „Grübeln kann als wesentliche Ursache und gleichzeitig als Symptom einer Depression gelten“, erklärt Egli. Das Prinzip dahinter: Wenn es mir schlechter geht, dann grübele ich mehr, und wenn ich mehr grübele, dann geht es mir schlechter – ein Teufelskreis.

Nach Angaben der Deutschen Depressionshilfe erkranken 5,3 Millionen aller Erwachsenen in Deutschland im Laufe eines Jahres an einer depressiven Störung. Frauen erhalten die Diagnose doppelt so häufig wie Männer. Die Zahl der Menschen, die unter regelmäßigem dysfunk­tio­nalen Grübeln leiden, ist nicht bekannt, müsste laut Egli aber noch höher liegen. Exzessives Grübeln erhöht zudem das Risiko für andere psychische Erkrankungen und kann zu Angst- und Schlafstörungen führen.

Grübeln nur an ­ungemütlichen Orten

Das Einschlafen fällt mir oft schwer, so auch heute Nacht. Also befolge ich den Ratschlag meiner Therapeutin – „Niemals an einem Ort grübeln, den Sie schön finden!“ – und verlasse schnell mein Bett. Der Stuhl, auf dem ich nun sitze, steht direkt an meiner Zimmerwand, meine Knie reiben an der rauen Tapete und schmerzen. Schwarze Punkte flimmern vor meinen Augen. Klingt ungemütlich? Gut so, das soll es sein. An genau so einem ungemütlichen Ort soll ich mir bewusst 15 Minuten Zeit fürs Grübeln nehmen, steht auf meiner Liste.

Heute auf der Grübelagenda: Warum melde ich mich eigentlich so wenig bei meinen Großeltern? Sie sind einsam, mittlerweile sehr alt, und ich bin ihre älteste Enkelin. Ich bin ein egois­ti­scher Mensch und ein fauler noch dazu, sagt mir mein grübelndes Ich.

Dass diese Gedanken vor dem Einschlafen aufkommen, liegt daran, dass man sich nachts nicht so leicht ablenken kann wie tagsüber. Oft entkoppeln sich Grübelgedanken von dem Kontext, zu dem sie eigentlich gehören. Statt also an die Großeltern zu denken, während man den nächsten Besuch plant oder sich alte Familienfotos ansieht, verknüpft sich der Gedanke mit einem neuen Auslöser wie dem Schlafengehen.

Anders als bei Sorgen, die sich auf Ereignisse beziehen, die in Zukunft geschehen könnten, geht es in der Grübelei hingegen meist um die Frage, warum eine Situation in der Vergangenheit so und nicht anders verlaufen ist.

Edward Watkins, Psychologe an der University of Exeter, hat dazu eine Regel formuliert: Wer funktional nachdenkt, stellt Wie-Fragen. Zum Beispiel: „Wie kann ich es beim nächsten Mal anders machen?“. Wer dysfunktional grübelt, stellt Warum-Fragen wie: „Warum musste mir das passieren?“. Letztere sind abstrakt und hypothetisch und nicht auf eine Antwort ausgelegt. Stattdessen schwingen Vorwürfe mit, die meist von einem zu hohen Anspruch an sich selbst kommen. „Ich sollte eigentlich besser sein, es ist nicht gut genug so, wie ich das mache.“

Nach fünf Minuten vor der weißen Wand habe ich keine Lust mehr. Meine Augen brennen, und mir ist schwindelig. Ich stehe auf und gehe auf die Toi­lette. Wann hat das überhaupt alles angefangen, frage ich mich, während ich meine Stirn an die kalten Badfliesen lehne.

In welchem Alter Menschen anfangen zu grübeln, ist unklar. „Möglicherweise beginnt es in dem Alter, in dem sich Kinder die Denkstrategien von ihren Eltern und anderen Bezugs­personen abschauen“, sagt der Psychologe Samy Egli. In der Pubertät jedenfalls steige die Neigung zum Grübeln an. Das habe mit den zunehmenden Vergleichsmöglichkeiten zu tun. Vor allem soziale Medien seien dabei ein Faktor. Egli spricht vom sogenannten Auswahl­para­dox, das besagt: Je mehr Auswahl wir haben, desto unzufriedener sind wir. So kommt es, dass Grübeln vorwiegend als Problem der jungen Generationen gilt.

Ich bin ein egoistischer Mensch, sagt mir mein grübelndes Ich

Studien belegen, dass Frauen mehr grübeln als Männer. Psy­cho­lo­g:in­nen haben dafür unterschiedliche Begründungen. Zum einen, sagt Egli, sei das Risiko für Depressionen und auch, wie intensiv Gefühle wahrgenommen werden, ein Stück weit genetisch bedingt. Zum anderen spiele es eine große Rolle, wie wir im Laufe unseres Lebens lernen, mit Problemen und Herausforderungen umzugehen. Da das gesellschaftlich eta­blier­te Bild von Weiblichkeit immer noch vorsieht, dass Frauen mehr Anteil an den Nöten anderer nehmen als Männer, werden sie von klein auf ermutigt, ihre Gefühle zuzulassen und auszudrücken. Zudem grübeln manche Menschen mehr als andere, weil sie in ihrem Leben mehr soziale Belastungen erfahren, die ihnen Anlass dazu geben.

15 Minuten sind lang, wenn man bewusst grübeln soll

Dass ich womöglich gesellschaftlich dazu erzogen wurde, mir nachts Gedanken über unwichtige Typen oder meinen Körper zu machen, frustriert mich. Und doch finde ich mich immer öfter auf dem Stuhl vor der Wand wieder. 15 Minuten habe ich es noch nie durchgehalten, meistens gehe ich vorher und mit schlechter Laune zurück ins Bett.

Die Frage: „Bin ich mit der Lösung meines Problems vorangekommen?“, steht auf der Liste meiner Therapeutin. Meine ehrliche Antwort: Nein. „Bin ich weniger selbstkritisch geworden?“, steht dort als nächstes. Auch nicht. „Habe ich etwas verstanden, das mir vorher noch nicht klar war?“ Nun, denke ich, vielleicht hat meine Therapeutin mit einer Sache recht: An einem ungemütlichen Ort höre ich tatsächlich irgendwann freiwillig mit dem Grübeln auf.