: Als das Virus nach Neukölln kam
Der Dokumentarfilm „Erste Welle“ wurde vor vier Jahren im Schillerkiez gedreht. Jetzt ist er bei „48 Stunden Neukölln“ zu sehen. Sein Protagonist, das Café Pappelreihe, muss bald schließen
Von Silvia Hallensleben
Gerade liefen letzte Versuche, das von Schließung bedrohte Schöneberger Café Berio vielleicht doch noch zu retten, wurde mir erzählt. Beim Café Pappelreihe in der Kienitzer Straße ist das Urteil gefallen. Sein dreißigjähriges Leben wird Ende des Monats wegen Verdoppelung der Miete durch neue Eigentümer beendet. Besonders schwerwiegend ist das, weil das Lokal mit den rustikalen Holztischen auf dem Bürgersteig auch einer der letzten Anlaufpunkte für die Alteingesessenen im Neuköllner Schillerkiez ist: Menschen, die noch von „Molle und Korn“ reden, die Orte dazu aber verloren haben. Doch auch junge Menschen kommen in das aus einem Zeitungsladen gewachsene Café und machen die Pappelreihe zu einem lebendigen Nachbarschaftstreff.
Das Lokal, Stammgäste und der freundliche Betreiber sind die Hauptakteure in einem Film, der (neben einem anderen Todesfall) durch die kommende Schließung einen zweiten traurigen Akzent bekommt. Gedreht wurde „Erste Welle“ vor vier Jahren in dem Kontext, der im Titel anklingt: als im März 2020 ein unbekanntes Virus von China auch nach Deutschland eingereist war und mit seinen Folgen das soziale und öffentliche Leben hier in seit Kriegsende unbekanntem Ausmaß beschränkte.
Der Film startet mit einem Drohnenflug, dessen Breitwand-Blick nach einem Panorama mit Fernsehturm Richtung Westen schwenkt und sich dann über die Landebahn des Tempelhofer Flughafens in die Kienitzer Straße absenkt. Im Ton dazu Ausschnitte aus Radiomeldungen, wo die zwangsweise Schließung von Bars, Bordellen, Kinos, Museen und Zoos verkündet wird. Der Rest der Nachrichten geht im Knarren der vom Wirt im Café hochgezurrten, farbenfroh bemalten Rollläden unter. Die werden bald unten bleiben. Und Tamilarasan Ganeshamurty, der sich vorher höchstens um eventuellen Ämterärger sorgte, wird erstmals mit existenziellen Ängsten konfrontiert.
Die Collage aus Rundfunkschnipseln bleibt auch für den Rest des knapp einstündigen Films eine Basis des Soundtracks. Ergänzt wird diese durch Dialoge des Wirts mit KundInnen und längere Statements dieser aus dem Off. Dabei werden unterschiedliche Positionen (mit ebenso viel Klugem wie Unsinn) zu Gehör gebracht, die Stimmung bleibt aber stets einander zugewandt.
An den Abenden der „Sechs Tage im Frühjahr 2020 in Berlin“ – so lautete ein Zwischentitel – verführt die Kamera mit Sonnenuntergängen über dem wohl größten Gentrifizierungs-Treiber des Quartiers: dem nahen Tempelhofer Feld, wo auch trotz mit Rot-Weiß-Flatterband versperrten Spielplätzen anderswo noch buntes Treiben herrscht.
„Erste Welle“ fokussiert die Ausnahmesituation der Coronazeit aus der besonderen Situation des Café-Müßiggangs, wo unverhoffter Freiraum naturgemäß näher ist als familiäre Bedrängnis – die Menschen, die mit ihren Kindern in den engen Wohnungen hocken, kommen hier nur als flüchtige Passantinnen mit dem Kinderwagen vor. Mit diesem Fokus ist der in Hof uraufgeführte unformatierte Dokumentarfilm des Neuköllner Filmemachers Christian Plähn ein anregender Beitrag zum diesjährigen Motto „Urbane Stille“ von „48 Stunden Neukölln“.
Weitere Interpretationen des Themas auf dem Festival kommen in gewohnter Fülle und Vielfalt vom Lo-Tek-Öko-Punk-Konzert (12 Volt) über eine Soundscape-Komposition mit historischen S-Bahnklängen im MuseumNeukölln (Berliner Lied ’24) bis zu einem Gruppen-Stadtspaziergang im Silentium (Soundwalk Zeichnen – Wandern) fast überwältigend üppig daher. Verlockende Erwartungen!
Doch das Café Pappelreihe schließt, so ist es angekündigt, endgültig am Sonntag nach der letzten Vorführung des Films.
48 Stunden Neukölln, 28.–30. Juni
„Erste Welle – der März 2020 im Schillerkiez“, Regie: Christian Plähn. Freitag 19 Uhr, IL Kino, Sonntag 19 Uhr, Rollberg Kino
mit Diskussion
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