„Mich interessiert, wie Herr Scholz das findet“

In Mönchengladbach fliegt ein Stein mit extrem rechter Botschaft auf das Zuhause von Menschen mit Behinderungen. Lebenshilfe-Leiter Özgür Kalkan fordert mehr Solidarität

Zuerst wurde die Geschäftsstelle der Lebenshilfe Mönchen­gladbach mit einem Ziegelstein angegriffen, später ein Wohnhaus für Menschen mit Be­hinderungen Foto: Fo­to: ­Lebenshilfe Mönchen­gladbach

Interview Manuela Heim

taz: Herr Kalkan, Sie leiten die Lebenshilfe Mönchengladbach, mit Wohnungen, in denen Menschen mit Behinderung leben. Was ist bei Ihnen in den letzten Tagen passiert?

Özgür Kalkan: Wir hatten schon am 20. Mai den ersten Sachschaden an unserer Geschäftsstelle in Mönchengladbach. Jemand hat die Scheibe eingeschlagen, wir sind zunächst von einem Einbruchsversuch ausgegangen. Dass der Schaden durch einen Ziegelstein entstanden ist, wurde erst später festgestellt.

Was stand auf diesem Stein?

Da stand „Euthanasie ist die Lösung“. Mit genau so einem Stein, mit der gleichen Aufschrift wurde dann am Montagmorgen eines unserer Wohnhäuser für Menschen mit Behinderung in Mönchengladbach Rheydt beschädigt. Wir waren unglaublich erschrocken zu diesem Zeitpunkt. 30 Bewohner leben in dem Haus, die Mitarbeitenden, die Angehörigen – alle waren besorgt und entsetzt. Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass wieder ein Sicherheitsgefühl entsteht – ohne dass wir die Freiheit der Bewohner einschränken. Wir werden zum Beispiel unsere Nachtwachen unterstützen, die bisher oft allein vor Ort sind.

Was erwarten Sie von der Polizei?

Wir hoffen natürlich, dass die Sicherheitsbehörden die Vorfälle gründlich untersuchen. Auch der Staatsschutz ermittelt. Das ist ja nicht nur ein Angriff auf eine Einrichtung der Behindertenhilfe oder der Lebenshilfe. Das ist ein ganz klar rechtsextremer Angriff auf unsere Gemeinschaft, auf die Demokratie.

Kamen die Taten für Sie überraschend?

Schauen wir uns die Entwicklungen der vergangenen Monate an: AfD-Politiker Björn Höcke stellt die Rechte behinderter Menschen infrage, bei Geheimtreffen werden Pläne zur Abschiebung von Menschen mit Migrationshintergrund geschmiedet, auf Sylt grölen Leute rechte Parolen. Da sieht man, dass die Kommunikation viel rauer wird. Aber dass aus den Worten jetzt tatsächlich Taten folgen, gegen Menschen mit Behinderung – das hätte ich nicht gedacht. Das sind neue Grenzen, die überschritten werden.

Wird dem Anschlag auf Ihre Einrichtung genug Aufmerksamkeit geschenkt?

Die schreckliche Situation auf Sylt hat zu Recht zu einem medialen Aufschrei geführt, Politiker auf Landes- und Bundesebene haben ihr Entsetzen ausgedrückt. Ich will gar nicht groß vergleichen. Aber ich fände es schon wichtig, dass mehr Medien und Politiker der Bundesebene darauf eingehen, dass ein Angriff auf eine Einrichtung der Behindertenhilfe mit einem Spruch, der klar in einen nationalsozialistischen Bereich geht, eine weitere überschrittene Grenze ist. Unser Bundeskanzler Olaf Scholz fand es „eklig“, was auf Sylt passiert ist. Mich würde schon interessieren, wie Herr Scholz das findet, was bei uns geschehen ist.

Was lässt sich diesen negativen Entwicklungen entgegensetzen?

Wir gehen ja sehr offen mit diesen Vorfällen um. Das machen wir nicht, weil wir unsere Einrichtung in den Fokus rücken wollen. Sondern um zu sagen: Schaut, die Dynamik wird immer negativer! Es bleibt nicht nur bei Rumgegröle. Jetzt fliegt ein Stein, und was ist der nächste Schritt?!

Egal ob Lebenshilfe, AWO oder DRK, ob Wohlfahrtsverbände, zivilgesellschaftliche Organisa­tio­nen oder Politik – wir müssen jetzt noch enger zusammenstehen, als wir es bisher schon tun. Hier werden immer mehr Grenzen überschritten, und da müssen wir konsequent laut werden. Für die Solidarität zu jedem Menschen, egal ob er eine Behinderung hat oder nicht, ob er einen Migrationshintergrund hat oder nicht.

Ist wieder Zeit für große Demonstrationen?

Foto: Lebenshilfe

Özgür Kalkan ist Geschäftsführer der Lebenshilfe in Mönchen­gladbach, Nordrhein-West­falen. Mit 140 Mit­ar­bei­ter*in­nen begleitet und betreut der Träger rund 300 Personen mit ­Behin­derung.

Ich finde das den richtigen Weg, ja. Wir planen am 6. Juni in Mönchengladbach Rheydt auf dem Marktplatz eine öffentliche Veranstaltung zur Solidaritätsbekundung. Mit Redebeiträgen aus der Politik und der Gesellschaft. Wenn wir uns mehr sichtbare Solidarität wünschen, dann ist dieser Tag und dieser Ort eine gute Gelegenheit dafür.

Wäre es auch wichtig, die Inklusion endlich mehr voranzutreiben, damit Menschen mit Behinderung nicht wie ein separater Teil der Gesellschaft betrachtet werden?

Klar wünsche ich mir als Geschäftsführer einer Einrichtung der Eingliederungshilfe mehr Mittel für die Inklusion. Wir leiden noch mehr als andere unter Fachkräftemangel. Der Ausbildungsberuf des Heilerziehungspflegers oder -pflegerin sollte viel mehr in den Fokus genommen werden, damit wir als Träger noch mehr als bisher in der Lage sind, Inklusion so umzusetzen, wie wir es gern würden.

Wenn wir von Inklusion reden, müssen Menschen mit Behinderung noch sichtbarer in der Gesellschaft sein. Und zwar nicht temporär und durch solche Vorfälle wie den rechts­ex­tre­men Angriff. Sondern dauerhaft und selbstverständlich.