piwik no script img

Märchen und GeschichtenRiesenfreund unserer Kinder

Lea Streisand
Essay von Lea Streisand

Kinder brauchen Märchen und Geschichten, um sich vor uns Eltern zu schützen: gegen die Herrschaft der Eltern, für Selbstständigkeit und freie Emotion.

Gut behütet ist nicht immer gut begleitet Illustration: Katja Gendikova

Mami, geh mal weg“, sagt mein sechsjähriger Sohn, „Ich will Conni gucken.“

Er weiß, wie wütend mich die Geschichten um das blonde Vorstadtmädchen machen. Und ich verstehe, warum „Meine Freundin Conni“ ihn beruhigt wie mich die Krimis von Agatha Christie. Es sind Nachrichten aus einer stabileren Welt, wo die Ordnung jeder Krise trotzt und alles Störende restlos beseitigt.

Die Struktur der Conni-Geschichten ist simpel wie die Zeichnungen: Klare Linien, keine Schatten. Ein behütetes Kind verhandelt scheinbar alltägliche Sorgen und Wünsche. Harmlos ist das nur auf den ersten Blick. Conni ist völlig unselbständig. Kaum je ohne erwachsene Begleitung, führt jede Eigeninitiative ins Unglück, dem das Kind hilflos gegenübersteht, worauf es mit Emotionen wie Angst und Wut reagiert, die es ebenfalls nicht selbst regulieren kann. Die Mutter löst, herbeigerufen, die Konflikte des Kindes, benennt seine Fehler und behebt den entstandenen Schaden. „Meine Freundin Conni“ ist die Wiedergeburt der moralischen Erziehungsschriften des 18. Jahrhunderts.

Kindheit ist wie das Konzept Mutterliebe eine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters. Und weil neue Gesellschaftsformen stets neue Medienformen hervorbringen, entstanden ab Mitte des 18. Jahrhunderts die literarischen Gattungen Frauenroman und Kinderliteratur parallel zu den zwanghaften Vorstellungen mütterlicher wie kindlicher Gefühlswelten, unter denen wir bis heute leiden.

„Du bist eine schlechte Mutter!“

„Die Mutterliebe ist so häufig als etwas Instinkthaftes bezeichnet worden, dass wir gern glauben, ein solches Verhalten sei unabhängig von Zeit und Raum in der Natur der Frau verankert“, analysierte Elisabeth Badinter schon 1980. Ich glaubte vor sechs Jahren noch, die Geburt meines Kindes würde mich zu einem besseren Menschen machen, einer bedingungslos liebenden Mutter, die die Antworten auf alle Fragen in sich selbst gefunden hätte.

Dann war das Kind geboren und ich fand mich verwandelt in ein kopfloses Ungeheuer, das einer Maus eine Windel anlegen sollte. Nie zuvor hatte ich mich so mächtig gefühlt, so zerstörerisch, so überfordert. Mein Baby war winzig, blind, bewegungsunfähig. Sein einziges Kommunikationsmittel war das Schreien und jedes Schreien die Anklage: Du bist eine schlechte Mutter!

Sechs Jahre später haben Ideal und Wirklichkeit einander angeglichen, aber noch heute begleitet mich die Angst, meinem Kind zu schaden, indem ich es als Fortsetzung meiner selbst betrachte.

Lehrhafte Schriften vernünftigen Handelns

Kinderliteratur wird selten als Kunst angesehen, eher als pädagogisches Instrument, um moralische Werte in die Bürgerliche Familie zu implementieren, einschließlich Handlungs-, Denk- und Gefühlsanweisungen wie 1795 der „Morgenwunsch des Kindes“ von Johann David Büchling:

Vergnügt erwach' ich heut aufs neu',

Gottlob! noch bin ich fehlerfrei;

O möcht' ich abends noch so rein

Von Fehlern als des Morgens sein.

Um 1800 galt das Triebhafte, Spielerische als Gefahr, die durch Vernunft zurückgedrängt werden musste. In lehrhaften Schriften folgte dem „unvernünftigen“ Handeln stets die umgehende Züchtigung des Kindes, nicht durch Erwachsene, sondern als natürliches Resultat des Fehlverhaltens. Sprang das Kind über einen Graben, brach es sich das Bein; aß es verbotene Speisen, wurde es krank usw.

In Conni lernt backen will das Kind heimlich Plätzchen backen. Als die Mutter einschreitet, sind zwei Eier zerschlagen und die Milch ist verschüttet. Denn Erfolg ohne Erlaubnis ist bei Conni unmöglich. Schlimmer als physischer Schmerz peinigt die moralische Vergeltung – die Enttäuschung der Mutter und der daraus resultierende Selbsthass – die Scham.

Die Mutter als Über-Ich

Freuds Strukturmodell der Psyche mit seinen drei Instanzen Ich, Es und Über-Ich zeigt, wenig überraschend, Connis Mutter als Über-Ich, das dem kindlichen Ich Conni seinen moralischen Stempel aufdrückt. Laut Freud ist eine Handlung des Ichs aber nur dann korrekt, „wenn sie gleichzeitig den Anforderungen des Es, des Über-Ichs und der Realität genügt, also deren Ansprüche miteinander zu versöhnen weiß.“ Doch wo bleibt bei Conni das Es?

In Grimms Märchen vom Rotkäppchen wird das triebhafte Es personifiziert durch den Wolf, der erst die Großmutter verschlingt – das Über-Ich des Über-Ichs! – und danach das Ich – Rotkäppchen. Dann erscheint der Jäger, die Gesellschaft dringt ins Private, schneidet sie alle wieder raus und zieht dem Wolf den Pelz ab.

Bei Conni repräsentiert das Tierische, Triebhafte, die Unvernunft, den Spaß ein winziger Kater namens Mau, der am zerschlagenen Ei schnuppern darf, mehr Chaos ist in Connis Welt nicht integrierbar.

Literatur sollte unsere Vorstellungswelt erweitern, utopische Denkräume eröffnen und Strukturen aus der Peripherie heraus infrage stellen, statt Herrschaftsverhältnisse zu konsolidieren.

Kindliche Wut ist kein Problem

Die virulenteste Herrschaft über das Kind sind die Eltern. Der Begriff Liebe ist nur ein Euphemismus für die Verklärung der Abhängigkeitskonstruktionen, auf denen wir unsere Gesellschaft stützen, weil Verantwortung unsexy bürokratisch klingt und Abhängigkeit hilflos.

Conni könnte sich von ihrer übergriffigen Mutter befreien. Doch von allen unerwünschten Emotionen ist Wut die wohl verpönteste. Erst letztes Wochenende konstatierte Caren Miosga zu Beginn ihrer Sendung: „Deutschland hat ein Wutproblem.“ Wutbürger, Wutbauern und wütende Studierende scheinen die These zu untermauern. Zu keinem Thema gibt es mehr Elternratgeber und Kinderbücher.

In Der kleine Trotzdrache ist die Wut ein tennisballgroßer Dämon, der eines Tages in einen kindlichen Drachen fährt und ihm „böse“ Gedanken einflüstert, woraufhin das Drachen-Ich auf einen Baum klettert, wo der Wut-Dämon von der Angst zersetzt wird, die den Drachen rettet. Die Angst ist Teil der kindlichen Gefühlswelt, die Wut ein gefährlicher Fremdkörper.

Noch heute begleitet mich die Angst, meinem Kind zu schaden, indem ich es als Fortsetzung meiner selbst betrachte. Alle Eltern tun das

Das Problem mit der Entsorgung unerwünschter Affekte durch Verdrängung ist bekanntlich ihre geringe Nachhaltigkeit.

Die Begründer der Literaturwissenschaft Jacob und Wilhelm Grimm haben das problematisiert. In der Ausgabe letzter Hand ihrer Kinder und Hausmärchen von 1857 taucht am Ende ein neuer Wolf auf, der getötet werden muss, diesmal von Rotkäppchen selbst, die Großmutter steht beratend zur Seite.

Verdrängung macht anfällig für Massenbewegungen

Emotionalität ist heute ins Internet verlagert. In sozialen Medien werden Gefühle inszeniert oder als Triebabfuhr in Kommentaren geäußert. Im Alltag allerdings sind emotionale Impulse zu „undenkbaren“ Schwächen entwertet, mündiger Bür­ge­r*in­nen unwürdig. Allein die Möglichkeit unvernünftiger Gefühle bedroht unser Selbstbild. Schafft eine Emotion es doch einmal an die Oberfläche unseres Bewusstseins, wird sie rationalisiert und zur objektiven Tatsache umgedeutet, nach dem Motto: Ich fühle das, also muss es stimmen.

Eine Verdrängungsleistung jedoch, die so potent ist, sogar unsere Wut zu generalisieren, macht uns anfällig für Verschwörungstheorien und autoritäre Massenbewegungen, deren Lustgewinn nach Horkheimer/Adorno bekanntlich in der „Sanktionierung der Wut“ des Einzelnen durch das Kollektiv liegt.

Den Kindern etwas zumuten

Mein Sohn wird dieses Jahr eingeschult, darum lesen wir jetzt Harry Potter. Ich habe meinem Kind auch von klein auf Grimms Märchen erzählt, die Originale von 1857. „Das kann ich meinem Kind nicht zumuten“, erklären mir andere Eltern, „da kriegt es Albträume!“ Albträume gehören zur kindlichen Entwicklung. Die im Traum durchlebten Ängste helfen bei der Verarbeitung realer Verluste und Enttäuschungen.

Ein Kind, das nur mit Conni aufwächst, lernt, dass es ohne seine Mutter nicht überleben kann, daher eigene Bedürfnisse zurückzustecken und Verantwortung für die Erwachsenen zu übernehmen hat. In Conni hilft Mama wird die Parentifizierung explizit. „Eine Drehscheibe auf dem Spielplatz ist schuld daran, dass sich Connis Mama den Fuß verknackst hat.“ Das Spielerische Es hat das Über-Ich angegriffen! Die „vernünftige“ Care-Arbeit wird nicht vom Vater übernommen, sondern als Buße vom Kind. Die Übertragung ist vollendet.

Mit drei Jahren ist das menschliche Gehirn fähig zur Imagination, erst dann entstehen Phantasien, Ängste und Selbsterkenntnis, die mit der ersten Ablösung von den Eltern einhergeht. Mit Geschichten von bösen Wölfen und misshandelten Zauberlehrlingen lernt ein Kind, wie sich Grusel anfühlt. Es erfährt, dass Angst, Kummer und Hilflosigkeit, ja sogar Hass und Gefahr ihm schuldlos begegnen können, dass Unvorhergesehenes geschehen kann, Großmütter können zu Monstern werden, Bezugspersonen sterben.

Das Kind kann erfahren, dass Angst, Kummer und Hilflosigkeit, ja sogar Hass und Gefahr ihm schuldlos begegnen können, dass Unvorhergesehenes geschehen kann

„Verlusterfahrungen widersprechen dem Fortschrittsdenken“, erklärt Andreas Reckwitz. Der Tod als ultimativer Verlust gelte seit der an ständiger Erneuerung und Überbietung orientierten Moderne nur noch als „peinliche Tatsache“, die als „undenkbar“ verdrängt werden müsse.

The next great adventure

Literatur aber kann und muss das Undenkbare verhandeln.

„To the well organised mind“, sagt Albus Dumbledore, Leiter der Zauberschule von Harry Potter, „death is nothing but the next great adventure.“

Grimms Märchen liefern die Erlösung aus der Krise stets anbei. Was tun, wenn der Wolf dich im Traum verschlingt? Schneide dem Wolf den Bauch auf! Deshalb lag auf dem Nachttisch meines Sohnes vor drei Jahren eine Plastik-Schere.

In der Harry-Potter-Heptalogie steht jede Figur für einen Aspekt der kindlichen Erlebniswelt. Die Hauptfigur Harry, das Freudsche Ich, ist, wie alle kindlichen Helden, die Personifizierung der Liebe und Herzensgüte, die jedoch ungebremst zur Selbstaufgabe tendiert. Flankiert wird Harry deshalb von zwei Freunden. Ron Weasley ist ein klassischer Falstaff, das allegorische Bauchprinzip, er personifiziert Treue, Humor und Trieb, das Es. Das Über-Ich Hermine als Muggelgeborene Pallas Athene steht für die kopfgeborene Vernunft. Aber der erste, der in Harrys Leben in Gefangenschaft bei den Dursleys eindringt, ist Rubeus Hagrid, ein Halbriese mit einer Schwäche für Monster. Hagrid ist Legastheniker, Schulabbrecher, ein mieser Zauberer und Koch, der trotzdem unbesiegt bleibt. Denn Hagrid personifiziert die unmittelbare kindliche Emotionalität. Er schlägt die Tür ein, um Harry aus dem Verlies der familiären Misshandlungen zu befreien. Seine Wut rettet das Kind, nicht die Angst.

Werkzeuge der Selbstermächtigung

Es sind unsere Kinder, die bedingungslos lieben, und zwar uns, ihre Eltern, Erzieher, Bezugspersonen, völlig unabhängig davon, ob wir diese Liebe verdient hätten (haben wir nicht!). Indem wir ihnen Geschichten an die Hand geben, in welchen sich die kindlichen Helden aus autoritären Abhängigkeitsverhältnissen lösen und selbstständig handeln, geben wir ihnen das Werkzeug mit, als handelnde Subjekte die Gesellschaft zu gestalten, in der sie leben wollen.

Und wenn wir die Wut unserer Kinder als Hagrid begreifen, müssen wir nicht mehr versuchen, sie zurückzudrängen oder zu rationalisieren, sondern können sie als Freund unserer Kinder willkommen heißen, der sie begleitet und beschützt, sogar vor uns, ihren übergriffigen Eltern.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Lea Streisand
Autorin
Schriftstellerin + NEU Herausgeberin von "Sind Antisemitisten anwesend? - Satiren, Geschichten und Cartoons gegen Judenhass" (Satyr Verlag 2024) => BUCHPREMIERE am 30.9.24 im Pfefferberg Theater Berlin. Kolumnen montags bei Radio Eins.
Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Ich fand die Kollumne sehr unterhaltsam, vielen Dank dafür.



    Was mich etwas ins stocken gebracht hat, war die Bemerkung, Mütterliebe wäre eine Erfindung des bürgerlichen Zeitalters. Ich bin mir nicht sicher, ob man das so pauschal sagen kann. Sicher hat sich unser heutiges (oder eher gestriges) Familienideal in dieser Zeit geformt, mit der Kleinfamilie, die aus einer Liebesheirat kommt. Aber in dem verlinkten Artikel der Kolumnistin (Zu Marx und den 5 Jennys) wird es leider auch nur en passent mit Rousseu und seiner (V)Erklärung einer gesunden Mutter-Kind-Beziehung thematisiert. Ich habe viel eher den Eindruck, dass sich in dieser zum ersten mal an der Problematik publizistisch abgearbeitet worden ist. Ist es denn möglich, ein Kind großzuziehen ohne (automatisch) eine gewisse Bindung zu entwickeln, einfach durch die gemeinsame Zeit und das hohe "Investment"? Eine Bindung, die wir "Liebe" nennen?