Sportgeschichte von ganz früher: In 59 Tagen nach Kalkutta laufen

Schon im 18. und 19. Jahrhundert gab es sensationelle Leistungen. Sie galten den Gentlemen-Athleten bloß nicht als „Sport“.

Sammelbildchen mit dem Läufer Roger Bannister

Weltrekordläufer Roger Bannister als Held einer „Brooke Bond collectors tea card“ 1969 Foto: UIG/imago

Roger Bannister war’s gar nicht! Dennoch glauben seit siebzig Jahren Sportfans und -historiker zu wissen, welcher Mensch als Erster die Meile unter vier Minuten gelaufen ist: Roger Bannister am 6. Mai 1954 auf der Anlage der University of Oxford. Die BBC hatte den Rekordversuch des englischen Mittelstrecklers damals live übertragen, zwei Tempomacher waren verpflichtet worden, und am Ende stand die sensationelle Zeit von 3:59,4 Minuten. Geschichte wurde gemacht, mit Ansage.

Doch dieses sichere Wissen ist vermutlich falsch. Es gibt Berichte, wonach ein Mann ­namens James Parrot diese Marke schon im Jahr 1770 in ­London unterboten hat. Oder 1777 ein Läufer namens Powell. Oder 1796 ein Läufer namens Weller.

Dieser Mr Weller war einer von drei Brüdern, die ihr Geld als Profiläufer verdienten. Im Oktober 1796 trat er in Oxford an, um die Vier-Minuten-Marke zu knacken. Das Sporting Magazine berichtete damals, Weller habe sie um zwei Sekunden unterboten, das entspräche einer Zeit von 3:58 Minuten. Der zweite, Powell, war ein Arbeiter aus Birmingham. Dass er die Meile in vier Minuten laufen könne, war etlichen Wettern hohe Einsätze wert. Überliefert ist, dass er schon bei einem Trainingslauf 4:03 Minuten gelaufen sei; die Zeit seines Wettkampfs 1777 ist hingegen nicht dokumentiert. Und der dritte, Parrott, war ein Straßenhändler in London. Er lief am 9. Mai 1770 im Londoner Stadtteil Shoreditch, nachdem er vorher gewettet hatte, er könne eine Meile in weniger als viereinhalb Minuten zurücklegen. Laut zeitgenössischen Quellen kam er ziemlich genau nach vier Minuten ins Ziel. Ob nach 3:59 oder 4:01 Minuten, das weiß man nicht.

Erst recht längst vergessen ist, dass auch Frauen im Schnelllauf unterwegs waren

Mindestens drei mögliche Rekordler vor Bannister also, aber sicher ist das natürlich ­alles nicht. Wir wissen weder, wie genau die Zeitnahme damals funktionierte, noch, wie eben oder abschüssig die Strecke war. Und ebenso wenig, ob die Meile wirklich so genau ausgemessen wurde, wie es Ende des 19. ­Jahrhunderts bei Sportwettkämpfen üblich wurde. Zudem kursierten immer wieder schlichte Falschmeldungen wie beispielsweise die, dass der deutsche Spitzenläufer Fritz Käpernick 1881 in England die Meile „einige Secunden unter drei Minuten“ gelaufen sei. Immerhin gab es aber Zeitungen, die solche Fantasiemeldungen sofort korrigierten.

Nachweislich war Pedestrianismus in Form professionell durchgeführter Geh- und Laufwettbewerbe in England und in den USA bis in das 19. Jahrhundert sehr beliebt. Das bedeutet auch, dass die Profis, die diesen Sport betrieben, gut trainiert waren und man sich deshalb über gute Leistungen wie die eben erwähnten nicht wundern muss.

Sportler durften keine „Profis“ sein

Der entscheidende Punkt, warum wir eher Roger Bannisters Lauf als sporthistorisch wahrnehmen, dürfte jedoch nichts mit den technischen Bedingungen – Zeitmessung, Schuhwerk, Streckenzustand etc. – zu tun haben, sondern damit, dass die Profiläufer von damals den Verwaltern des Sports ab dem 19. Jahrhundert schlicht nicht als Gentlemen galten, die einer noblen Sache wie dem Sport würdig wären.

Laufen als eine der frühesten Profisportarten war nicht nur in England und Amerika sehr populär, sondern auch im Deutschland des 19. ­Jahrhunderts. Wie die Historiker ­Herbert Bauch und Michael Birkmann allerdings schreiben: „In der Sportgeschichtsschreibung wurden die Schnell- und Kunstläufe lange Zeit überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, sondern dem Berufssport und damit der Schaustellerei zugeordnet.“ Eine Berühmtheit in seiner Zeit war der Norweger Mensen Ernst, der buchstäblich durch die ganze Welt lief. Paris-Moskau schaffte er 1836 in 14 Tagen, und für ­Konstantinopel-Kalkutta ­benötigte er nur 59 Tage. Da lief er einen Schnitt von 142 ­Kilo­metern pro Tag. Doch sogar Mensen Ernst geriet nach ­seinem Tod bald in Vergessenheit.

Martin Krauss: „Dabei sein wäre alles. Wie Athletinnen und Athleten bis heute gegen Ausgrenzung kämpfen. Eine neue Geschichte des Sports.“ München 2024: C. Bertelsmann, 450 Seiten, 28 Euro.

Erst recht längst vergessen ist, dass auch Frauen im Schnelllauf unterwegs waren: Über Auguste von Lerchenstein, die um die 1820er und 1830er Jahre mindestens ein Jahrzehnt lang öffentliche Läufe absolviert hat, weiß man kaum etwas. In einer Zeitung wurde 1828 „einem hohen Adel und verehrungswürdigen Publikum“ mitgeteilt, „die berühmte Schnell-Läuferin Auguste Lerchenstein“ werde in der Berliner Hasenheide „in einem geschmackvollen Anzuge, unter Begleitung einer angenehmen Musik, einen Schnell-Lauf von 30 000 Fuß, oder 1 1/14 deutsche Meile mit angenehmer Abwechslung im Laufen, in der Zeit von 35 Minuten vollenden“. Lerchenstein war nicht die einzige Berufsläuferin. Läuferinnen wie K. F. Roosen aus Hamm, Johanna Schultz aus Hamburg, Mademoiselle Thielmann aus Amsterdam oder Carolina Pauckert aus Sankt Petersburg sorgten mit ihren öffentlichen Auftritten für Furore. In den USA wurde Madame Anderson berühmt mit ihren Vorführungen. Ebenso die deutsche Einwanderin Bertha von Berg, die 1879 im New Yorker „Gilmore Garden“ nach absolvierten 372 Meilen siegte. Erst als dort eine Empore zusammenbrach, musste sie den Lauf abbrechen.

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