Beschimpft und zu Boden gestoßen

In Berlin wird ein Jude körperlich angegriffen – niemand schreitet ein. Seine Gemeinde berichtet von zahlreichen Übergriffen seit dem 7. Oktober

Von Erica Zingher

Er sei nach Deutschland gekommen, um sich sicher zu fühlen. Jetzt habe er Angst. Das erzählt die Frau eines 54-jährigen Juden, der vergangene Woche in Berlin-Mitte mutmaßlich antisemitisch attackiert worden ist, nach der Tat. Der Betroffene selbst ist derzeit psychisch nicht in der Lage mit Journalisten zu reden, heißt es.

Am vergangenen Freitag hatte ein Unbekannter den aus der Ukraine stammenden Juden körperlich angegriffen und angeschrien. Die taz konnte mit der Frau des Betroffenen sprechen. Aus Angst möchte das Paar anonym bleiben. Die Namen sind der Redaktion bekannt.

Gegen 16 Uhr an jenem Freitag, kurz vor Beginn des Schabbat, habe ihr Mann sich auf der Brunnenstraße befunden, berichtet seine Frau. Er habe Sushi gekauft und auf Russisch mit seiner Schwester telefoniert, während er in Richtung Berlin-Gesundbrunnen gegangen sei. Äußerlich sei er als religiöser Jude erkennbar: Er trägt einen Bart, eine Kappe, unter der die Kippa sitzt, dazu ein weißes Hemd. Die Fäden der Zizit schauen heraus, Teile des jüdischen Gebetsmantels.

Der mutmaßliche Täter sei hinter dem Mann her gerannt und habe ihn zunächst als „russischen Faschisten“ beschimpft. Dann habe der Angreifer, den der Betroffene als arabischstämmig beschreibt, dem Juden „Free Palastine“ entgegen geschrien, in seine Richtung gespuckt und ihn zu Boden geschubst.

Als der Mann am Boden lag, soll der mutmaßliche Angreifer einen E-Scooter vom Straßenrand genommen und ihn damit am Arm verletzt haben. So berichtet es der Betroffene später seiner Frau und der Polizei. Das Ergebnis: Eine gebrochene Hand, die er später im Krankenhaus behandeln lässt. Außerdem ein zerrissener T-Shirt-Ärmel und blaue Flecken.

Während der Tat sollen zahlreiche Passanten, insbesondere Männer, zugesehen und zum Teil Handyaufnahmen gemacht haben. Die Gruppe um ihn herum sei immer größer geworden, aber niemand habe eingegriffen. Die Polizei teilt auf Anfrage der taz mit, dass sie wegen gefährlicher Körperverletzung ermittelt. Sie geht von einem antisemitischen Tatmotiv aus. Der Staatsschutz ermittelt.

Der Angegriffene und seine Familie kommen aus der Ukraine. Kurz nach Ausbruch des erweiterten russischen Angriffskriegs flohen sie nach Deutschland. Ihr Mann leide seitdem unter einer posttraumatischen Belastungsstörung, erzählt die Frau des Betroffenen.

Die aktuelle Tat hat das Sicherheitsgefühl des Juden erneut angegriffen. Schon als Schüler habe ihr Mann antisemitische Angriffe in der Ukraine erlebt. Auch damals soll seine Hand bei einem Vorfall gebrochen worden sein. „In den ersten Tagen nach dem Angriff war mein Mann sehr verstört. Er wollte das Haus nicht verlassen. Er hat Angst und wirkt apathisch, traumatisiert“, erzählt die Frau. Nach der Tat habe er sie gefragt, wohin sie als nächstes gehen sollen, wenn sie in Deutschland nicht mehr sicher wären. Eine Antwort hatte sie nicht.

Übergriffe auch gegen Kinder

Unweit des Tatorts befindet sich die jüdische Gemeinde Kahal Adass Jisroel (KAJ), in der der Angegriffene Mitglied ist. Gemeindevorstand Pasha Lyubarsky verurteilt die Tat, überrascht ist er allerdings nicht. „Die Hetze gegen Israel und Juden, die als Zionisten bezeichnet werden, hat seit dem Massaker der Hamas am 7. Oktober zu einem riesigen Anstieg der antisemitischen Übergriffe in Deutschland geführt“, sagt er der taz.

„Nach dem Angriff war mein Mann sehr verstört. Er hat Angst und wirkt apathisch, traumatisiert“

Ehefrau des Betroffenen

Es sei nicht das erste Mal, dass in dem Stadtteil Gemeindemitglieder, auch Kinder, beschimpft, bespuckt oder physisch angegriffen würden. Mitte Oktober vergangenen Jahres hatte es einen versuchten Brandanschlag auf die Gemeinde gegeben. Unbekannte hatten zwei Molotowcocktails in Richtung des Gebäudes geworfen.

Lyubarsky fordert, dass die Ängste seiner Gemeindemitglieder ernster genommen werden. Antisemitismus sei für ihn und die Mitglieder keine abstrakte Gefahr, sondern Realität. Die Sicherheitsbehörden müssten alle Maßnahmen ergreifen, um jüdisches Leben zu schützen. „Wir lassen uns nicht einschüchtern und werden uns weiterhin für ein friedliches Miteinander und den Dialog einsetzen“, sagt er. „Keine Person – jüdisch, christlich oder muslimisch – sollte Angst haben, die Berliner Straßen zu betreten.“

Am selben Tag, an dem der ukrainische Jude im Stadtteil Mitte attackiert wurde, gab es in Berlin einen weiteren Vorfall: Im Bezirk Moabit wurde ein Mann verletzt und beraubt, der mit einer Israelfahne in einem Café saß. Der 34-Jährige saß im Außenbereich, als ein Unbekannter auf einem E-Scooter an ihm vorbei fuhr, dann zurückkehrte und ihm ins Gesicht schlug. Er soll laut Polizei israelfeindliche Parolen von sich gegeben haben.

Das Opfer gab später an, seine ­Geldbörse sei bei dem Vorfall geklaut worden. Die Polizei spricht von einem „israelfeindlichen Hintergrund“. Der Staatsschutz ermittelt auch in diesem Fall.