Kostengespenst im Rathaus

Vor zwei Bürgerentscheiden für den Ausbau der Radverkehrswege verbreitet SPD-Oberbürgermeisterin Petra Broistedt in Göttingen Angst und Schrecken: 100 Millionen Euro würde die Umsetzung die Stadt kosten, behauptet sie. Die Schätzung sei unlauter, kritisiert die Radinitiative

Schnell durch die Stadt: Der Göttinger „eRadschnellweg“ war bundesweit einer der ersten Foto: Swen Pförtner/dpa

Von André Zuschlag

Wer abstimmen darf, sollte auch ein paar neutrale Informationen über die Folgen der anstehenden Entscheidung erhalten. Diesem Gedanken folgte Göttingens Oberbürgermeisterin Petra Broistedt (SPD) und präsentierte vergangene Woche die finanziell desaströsen Konsequenzen, sollte der anstehende, von einer Bürgerinitiative angestoßene Radentscheid von der Mehrheit der Göt­tin­ge­r:in­nen angenommen werden. Dafür erntet sie nun massiv Kritik wegen der von ihr kolportierten 100 Millionen Euro, die dem städtischen Haushalt dann leider fehlen würden – etwa bei der Schaffung von bezahlbarem Wohnraum, bei der Sanierung von Schulgebäuden oder bei Pflegeangeboten. Nicht nur die Initiative Göttingen Zero tobt über das „Spiel mit falschen Zahlen“, mit dem die sozialdemokratische Oberbürgermeisterin als in diesem Fall zur Neutralität verpflichtete Verwaltungschefin versuche, „den Radentscheid scheitern zu lassen“.

Genau genommen sind es zwei Entscheide, über die die Göt­tin­ge­r:in­nen am 9. Juni parallel zur Europawahl abstimmen sollen – beide hatte die Initiative durch das Sammeln von rund 8.500 Unterschriften vorangetrieben. Sie zielen darauf ab, den Radverkehr in der Uni-Stadt bis 2030 deutlich zu verbessern – auch um die Stadt klimaneutral zu machen. Dazu brauche es „mehr sichere und ausreichend breite Radwege, auf denen Kinder und ältere Menschen sicher und selbstständig durch die Stadt fahren können“, sagt Martin Hulpke-Wette von der Initiative. Während der erste Entscheid allgemeine Ziele benennt, konkretisiert der zweite Entscheid die Ziele und benennt etwa Straßen, an denen Protected Bike Lanes von den Autospuren abgegrenzt werden sollen. Die Ak­ti­vis­t:in­nen legen auch eine Liste von Straßen vor, die zu Fahrradstraßen umgewandelt werden sollen. Unterstützt wird die Initiative unter anderem von der Gewerkschaft Ver.di, dem Asta der Uni und dem Umweltverband BUND.

Den Berechnungen der Verwaltung zufolge würde die Annahme des ersten Entscheids die Stadt knapp 40 Millionen Euro kosten, die Umsetzung des zweiten etwa 56 Millionen. Um die Entscheide umzusetzen, müsse die Stadt 20 Stellen schaffen und diese in Zeiten des Fachkräftemangels auch noch besetzt bekommen. Wer beiden Rad­entscheiden zustimme, müsse sich bewusst sein, dass für deren Umsetzung finanzielle Mittel an anderer Stelle eingespart werden müssten, sagte Broistedt der Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen (HNA) zufolge vergangene Woche bei einer Informationsveranstaltung.

Seither lässt die Kritik an Broi­stedts Darstellung nicht nach. Die Zahlen seien in vielfacher Hinsicht völlig unseriös, kritisiert Göttingen Zero. „Die Stadt ignoriert, dass die beiden Radentscheide sich inhaltlich zu einem Drittel überschneiden“, sagt Hulpke-Wette hinsichtlich der Forderung nach Protected Bike Lanes. Demnach könnten die Kosten für beide Begehren nicht einfach addiert werden.

Auch beinhalte die Kostenschätzung eine jährliche Inflation von 15 Prozent. Eine solche Preissteigerung habe es im Baugewerbe zwar zwischenzeitlich im Kontext des Ukrainekrieges kurz gegeben. Sie liege jedoch längst wieder bei den üblichen fünf Prozent. Außerdem habe die Oberbürgermeisterin auch verschwiegen, dass solche Bauvorhaben in der Regel zu mindestens 50 Prozent von Land und Bund gefördert werden.

Die Göttinger Grünen haben sich der Kritik angeschlossen und halten Broistedts Kostenschätzung für „unlauter“. Angesichts der verschwiegenen Förderungen „schrumpft das Kostengespenst schnell auf ein Viertel“, sagt Susanne Stobbe, Fraktionsvorsitzende im Stadtrat. „Wenn notwendige Maßnahmen von einer breiten Masse Göt­tin­ge­r*in­nen gewollt und getragen werden, dann sollten wir uns als Politik, Verwaltung und Verwaltungsspitze unbedingt darüber freuen, anstatt sie im Vorfeld schon auf diese Weise zu demontieren.“

Am Montag dann reagierte Broistedt mit einer „Gegendarstellung“ auf die Kritik. „Die Ermittlung zu den Kosten der beiden Bürgerentscheide erfolgte 2023 auf der Grundlage einer seriösen und realistischen Kostenschätzung, die die Kosten transparent darlegt.“ So müssten die Kostenschätzungen unabhängig voneinander berechnet werden, da beide Entscheide unabhängig voneinander zur Wahl stünden. Auch die 15-prozentige Inflation sei korrekt kalkuliert. „Fakt ist, dass die Baupreise durch den Ukrainekrieg, Lieferengpässe und den Fachkräftemangel in den letzten zwei Jahren überproportional – und auch über die Verbraucherpreissteigerung hinaus – gestiegen sind und auch weiter steigen werden.“ Demgegenüber ließen sich Fördermittel nicht im Voraus kalkulieren: „Angesichts der Haushaltslage der Bundesregierung ist es unsicher, auf üppige Fördermittel zu setzen.“ Im Übrigen nehme die Stadt schon jetzt die Verkehrswende ernst und betreibe eine entsprechende Verkehrspolitik.

Die Ak­ti­vis­t:in­nen hatten die städtische Kostenschätzung überprüft und waren auf grobe Rechenfehler gestoßen

Die Positionen der Oberbürgermeisterin bezeichnet Martin Hulpke-­Wette mittlerweile als „Fake News“. Die Initiative hatte die städtische Kostenschätzung überprüft und war auf grobe Rechenfehler gestoßen, die aber bislang nicht korrigiert worden seien. In einem Fall gehe es um ein Radverkehrsvorhaben, bei dem die Stadt die Inflation doppelt berechnet habe und damit um mehrere Millionen Euro zu viel kalkuliert habe. „Wir hingegen haben das solide durchgerechnet: Es geht bei Weitem nicht um 100 Millionen Euro, sondern um etwa 25 Millionen Euro – und das verteilt auf sechs Jahre“, sagt Hulpke-Wette.

Damit sie die Stadt zur Umsetzung verpflichten, müssen die Mehrheit und mindestens 20 Prozent der wahlberechtigten Göt­tin­ge­r:in­nen am 9. Juni für die beiden Entscheide stimmen.