: Vergessene Katalysatoren des Fortschritts
Man kennt die großen Revolutionsführer:innen, die vielen Aktivist:innen sind dagegen oft unbekannt – ein Grund für Loel Zwecker, die soziale Fortschrittserzählung neu zu schreiben
Von Björn Hayer
Ganz am Anfang stehen – wie sollte es auch anders sein!? – die großen Theoretiker:innen und Erfinder:innen, und dann folgen klassischerweise auch schon die (na klar: männlichen!) Revolutionsführer, die die Ideen in die Tat umsetzen. In dieser Art schrieb man bislang die Fortschrittsgeschichten der Menschheit. Dass letztere jedoch nicht ausschließlich von den Gebildeten und Mächtigen, sondern oft von den Unterprivilegierten vorangetrieben wurden, darüber klärt indes Leol Zweckers aktuelles Buch „Die Macht der Machtlosen. Eine Geschichte von unten“ auf.
Entgegen der Mainstream-Historiografie, die häufig den medienwirksamen Repräsentant:innen an den Rednerpulten Denkmäler errichtete, sorgt der 1968 geborenen Autor nun für eine ausgleichende Gerechtigkeit, indem er einige prägnante Weltverbesserer aus prekären Verhältnissen in den Vordergrund rückt. So etwa William Abraham. Als ehemaliger Kohlekumpel erstritt er Ende des 19. Jahrhunderts den ersten monatlich freien Tag für seine Branche in Amerika. Ein ähnliches Engagement bewies die 1937 im Andenhochland geborene Domitila Barrios de Chungara. Nachdem sie zur Generalsekretärin eines die Rechte von Arbeitnehmer:innen wahrnehmenden Bundes gewählt wurde, verteidigte sie das Gewerkschaftshaus vor Militärstürmungen sogar mit einem umgebundenen Dynamitgürtel!
Nicht immer ging es den Underdogs von unten ausschließlich um mehr wirtschaftliche Gleichheit. Ebenso in gesellschaftspolitischer Hinsicht leiteten sie Wendezeiten ein. Lange bevor man an feministische Intellektuelle der Moderne dachte, sägten beispielsweise zwei Provokateurinnen am Sockel des Patriarchats. Noch heute zeugen daher kubanische Münzen von den Travestien von Mary Read (1685–1721) und Anne Bonny (1697–1782), die frank und frei Männer- beziehungsweise Piratenkleidung trugen und somit symbolisch für mehr weibliche Autonomie eintraten.
Auch wenn Zwecker nicht ganz seiner Ambition gerecht wird, anhand aufwendig recherchierter, exemplarischer Lebensläufe klar die zentralen Mechanismen hinter den vergangenen Protestdynamiken aufzudecken, verspricht sein Werk ein Surplus. Vor allem, weil er uns zu einem grundlegenden Perspektivwechsel einlädt. Immer wieder stellt er das Narrativ der herausragenden Helden infrage, „die schwere Kämpfe ausfechten und extreme Aufs und Abs erleben müssen, um am Ende über den Durchschnitt der Menschheit hinauszuragen […].Historisch hat sich das Bild […] etabliert, bei dem Mächtige Schmerzen und ‚Opfer‘, vor allem jene der Massen, gleichsam schweren Herzens in Kauf nehmen, um ‚die Menschheit‘ voranzubringen“. Müssen wir also unseren Fokus neu ausrichten? Mehr über Gruppen und Aufbegehrende jenseits des Scheinwerferlichts sprechen?
Loel Zwecker: „Die Macht der Machtlosen“. Tropen Verlag, Berlin 2023, 416 Seiten, 26 Euro
Seit den Bauernaufständen
Die Antwort lautet: Ja! Nur so erkennen wir, dass mithin der Erfolg der Erzählung des „Robinhoodismus“ nicht allein auf den Outlaw im grünen Ornat zurückgeht. Vielmehr verfestigte sich das Bewusstsein für nötige Umverteilungen zur Zeit der Verbreitung dieser Sage maßgeblich durch die Bauernaufstände im 14. Jahrhundert.
In seiner Rückschau macht der Text ebenfalls deutlich, wo heute die Probleme liegen. Denn was für das Klima oder den sozialen Frieden nottut und in intelligenten Konzepten, insbesondere über erforderliche Änderungen unseres Konsums, niedergeschrieben wurde, mobilisiert noch lange nicht die Massen. Im Gegenteil, nicht wenige Menschen aus abgehängten Milieus wählen reaktionär und rechts, statt progressiv und ökologisch. Die Ableitung aus Zweckers fesselnder Schrift, allen voran für die linken Kräfte in der Politik, kann daher nur lauten: Nehmt die Basis ernst und werbt für breite Bündnisse!
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