Politisch motivierte Kriminalität: 1.000 untergetauchte Rechtsextreme
Die Zahl der mit Haftbefehl gesuchten extrem Rechten dürfte höher sein als gedacht. Bisher tauchen Reichsbürger und Verschwörungsideologen nicht auf.
Deswegen hat Renner deren Zahlen noch einmal gesondert abgefragt: Laut der Antwort aus dem Bundeskriminalamt gab es zum letzten Erhebungsstichtag im vergangenen Herbst 244 offene Haftbefehle gegen 179 Personen unter dem Label „Reichsbürger/Selbstverwalter“. Von diesen Personen gälten den Sicherheitsbehörden allerdings nur 26 auch als rechtsextrem, der große Rest sei unter „Sonstige“ aufgeführt.
Noch größer wird die Dunkelziffer, wenn man sich den Phänomenbereich „Sonstige“, also die sogenannte „politisch motivierten Kriminalität sonstige Zuordnung“, genauer anschaut. Hier gibt es insgesamt 621 offene nationale Haftbefehle gegen insgesamt 449 Personen. Bei 110 dieser Personen lagen dem Haftbefehl Gewaltdelikte zugrunde.
Reichsbürger*innen machen den Zahlen zufolge ein Drittel dieser Gruppe aus. Laut Renner zählen neben Reichsbürger*innen auch verschwörungsideologische QAnon-Gruppen, Coronaleugner*innen und auch einige rechte Siedlergruppen zu dieser Kategorie. Verbindendes Merkmal sei häufig „Antisemitismus, Rassismus und die Ablehnung demokratischer Prozesse“.
Vervielfachung während der Corona-Pandemie
Der Bereich „Sonstige“ existiert bereits seit einigen Jahrzehnten, ist aber vor allem im Zuge der Corona-Pandemie um ein Vielfaches angewachsen, weil die Sicherheitsbehörden das protestierende verschwörungsideologische Spektrum entlang ihrer Kriterien der Extremismustheorie nicht klar eingeordnet haben. Mittlerweile gehen viele der Schwurbler*innen aus Corona-Zeiten auch mit offen rechtsextremen Gruppen wie den Freien Sachsen auf die Straße. Die Linken-Politikerin verweist darauf, dass viel der unter „Sonstiges“ zugeordneten Straftaten einer menschenfeindlichen Motivation folgten, wie sie insbesondere Rechtsextremist*innen vertreten.
Renner kritisierte entsprechend die Kategorisierung der Sicherheitsbehörden als Augenwischerei: „Niemand darf 1.000 Haftbefehle gegen Neonazis, Reichsbürger und QAnon-Anhänger klein reden oder in Statistiken als Sonstige verstecken.“ Das Gewaltpotential der Szene wachse seit Jahren, sagte sie der taz: „Personen, die von einer antisemitischen Verschwörung fabulieren, eine Militärdiktatur herbeisehnen und den bewaffneten Sturz der Demokratie vorbereiten, in eine harmlos scheinende Kategorie zu verschieben, verstellt den Blick auf die realen Gefahren.“
Hinzu kommt, dass die Zahl der mit Haftbefehl gesuchten Neonazis zuletzt kaum abgenommen hat. Im Jahr 2023 verringerte sich die Zahl nur um 22 Personen von 619 auf 597, wie das Neue Deutschland zuletzt berichtete. Im Bereich „politisch motivierter Kriminalität links“ gibt es demnach derzeit 94 mit Haftbefehl gesuchte Personen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos