Das Theater von René Pollesch: Der Tod irrt sich gewaltig

Gedankenreich, witzig und schnell waren die Inszenierungen von René Pollesch. Nun ist der Dramatiker und Intendant mit 61 Jahren verstorben.

Porträt von René Pollesch mit erhobenen Händen

René Pollesch, Dramatiker, Regisseur und zuletzt Intendant an der Volksbühne Berlin Foto: Britta Pedersen/dpa

Ein Bild taucht auf, als die Nachricht vom unerwarteten Tod des Regisseurs René Pollesch kommt. Das Bild eines Skeletts, das mit den Knochen klappert. Es sitzt auf dem Rücken des Schauspielers Martin Wuttke und bewegt sich mit seinen Bewegungen mit. Zusammen traten sie auf in „Aufstieg und Fall eines Vorhangs und sein Leben dazwischen“, dem ersten Stück, das René Pollesch für die Volksbühne inszenierte, nachdem er 2021 dort Intendant geworden war. Am Montagabend meldete das Berliner Theater voller Bestürzung seinen plötzlichen Tod.

René Pollesch hat mit seinen pointenreichen Diskurstheaterstücken als Autor und Regisseur ein eigenes Genre erfunden. Er war zwar nicht der einzige Protagonist des postdramatischen Theaters, das Figuren und Handlung über Bord warf und stattdessen theoretische Gedanken zum Tanzen bringt, aber er hatte damit den größten Erfolg, seit inzwischen mehr als zwanzig Jahren.

Viele seiner Stücke gingen aus Lektüren hervor, über Kapitalismus, Philosophie, Kunsttheorie. Aus der Reflexion über die Rolle des Schauspielers, der Herstellung von Authentizität, der Identifikation mit einem Theater zweigten sich Denkwege ab, die allgemeine gesellschaftliche Veränderungen betrafen, schleichende Bewegungen, für die erst langsam Begriffe gefunden wurden.

Depressionen inbegriffen

Dazu gehörte die Überidentifikation mit dem Job, das Verinnerlichen der ständigen Selbstoptimierung, seelische Überforderung, Depression. Diedrich Diederichsen schrieb dazu 2012 in einer Laudatio, als Pollesch den Else-Lasker-Schüler-Preis (einen seiner vielen Preise) bekam: „René Pollesch, ein Theaterkünstler war der Erste überhaupt, der im deutschsprachigen Raum die Konsequenzen der neuen Verhältnisse nicht einfach nur thematisierte und benannte, sondern sich dranmachte, seine Kunstform, eben das Theater, neu zu bestimmen.“

Mit den Schauspielern diskutierte er die Thesen, sie waren seine brothers and sisters in crime, seine Mitautoren, die mit dem eigenen Körper durchlebten, was allgemein schieflief. Sophie Rois, Kathrin Angerer, Caroline Peters, Martin Wuttke, Fabian Hinrichs entwickelten mit ihm die Texte auf den Proben. Und sie machten das in seiner Regie mit einer Virtuosität und einem Timing, das die Anstrengung des Publikums, den diskursiven Schlaufen zu folgen, immer mit Glamour, mit Bewunderung für die schauspielerische Leistung und Erheiterung verband. Erheiterung darüber, wie die Schau­spie­le­r:in­nen die Klippen der Theorie in sprachlichen Slapstick verwandelten.

So war René Pollesch zwar bekannt dafür, viele unausgesprochene Regeln des Theaters zu hinterfragen und damit überhaupt erst sichtbar zu machen. Aber er verzichtete eben nicht darauf, die Schau­spie­le­r:in­nen leuchten zu lassen. Dafür wurde er geliebt.

Weiter denken statt Recht haben

Daumen hoch oder Daumen runter, das schnelle Urteil, das Bekenntnis: Das, was heute der Gesellschaft zu schaffen macht, das war nicht die Kultur von René Pollesch. Nicht die Eindeutigkeit einer Botschaft war das Ziel, sondern das ständige Weiterdenken, Entwickeln neuer Zweifel an der gerade gefassten Erkenntnis. Das hatte nicht selten etwas zugleich Verzweifeltes und Komisches. Die Sprache war sein Werkzeug, aber ihren einzelnen Elementen misstraute er, scheuchte die Euphemismen in den Jargons der Ökonomie und Politik auf. Das sorgte für Erkenntnisblitze, auch wenn sie sich nicht immer festhalten ließen.

Pollesch-Uraufführungen waren Theater, mit heißer Nadel gestrickt, der Text noch dampfend in den Büchern der Souffleusen, die deshalb oft mit auf der Bühne waren. Das schnelle Lernen komplexer Texte erzeugte einen Druck, der sich in den Aufführungen nicht selten in einen Rausch transformierte, man konnte mitgetragen werden. Das gelang oft, wenn auch nicht immer.

René Pollesch wurde 1962 in einer Kleinstadt in Hessen geboren. Sein Bildungshunger, der sich durch seine Stücke zog, brachte ihn an die Universität Gießen, an den Fachbereich Angewandte Theaterwissenschaften, 1982 von Andrzej Wirth gegründet. Die Entwicklung des postdramatischen Theaters wurde dort theoretisch vorbereitet. Mit einer dreiteiligen Soap um „Heidi Hoh“, die das Leben im Netzkapitalismus reflektierte, begann 1999 sein Erfolg an der Volksbühne, an ihrer Nebenspielstätte Prater. Dass er aus dem Westen kam, machte es für ihn im Haus zunächst nicht einfach. Attraktive Subkultur, Geheimtipp im Prenzlauer Berg, lange ist das her.

Lange Geschichte an der Volksbühne Berlin

Seitdem war Pollesch dem langjährigen Intendanten der Berliner Volksbühne, Frank Castorf, eng verbunden. Er bescherte dem Haus, das einerseits eine Ostperspektive im Blick auf Kultur und politische Geschichte zu bewahren suchte, der es andererseits aber auch misstraute, neuen Publikumszulauf, jünger als die Ost-West-Verwerfungen.

Jetzt waren es auf einmal die jungen Leute, die ihren Eltern begeistert den Besuch im Theater empfahlen, und die Älteren fühlten sich dann mit Pollesch auf einmal wieder auf der Höhe der Zeit. Pollesch inszenierte aber auch am Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, am Burgtheater in Wien und an vielen anderen Häusern, seine Denkbewegungen zogen von Stück zu Stück, die Karawane der Schauspieler auch, ein langer Fortsetzungsroman.

Als der Kulturmanager Chris Dercon ab 2017 Nachfolger von Frank Castorf werden sollte, gehörte Pollesch zu denen, die laut Protest einlegten. Er kämpfte um die Identität des Berliner Theaters, das er als einzigartig beschrieb in dem, was es den Künstlern an Freiraum ermögliche. Sein Theater sah er da auch als ein Gegenmodell zu einem klassischen Theater, das noch immer unzeitgemäßen Konventionen folge.

Freundschaften waren für René Pollesch eine wichtige Kategorie, die auch das Arbeitsleben leiten sollte

Dieses Bild ist indes etwas zu einfach. Viele Künst­le­r:in­nen haben daran gearbeitet, dass das dramatische und das postdramatische Theater keine unversöhnlichen Gegenpole bilden, sondern zusammen an den Erzählformen arbeiten. Pollesch war ein Pionier, dem viele folgten.

2019 wurde er dann als Intendant der Volksbühne ab 2021 berufen. Das sah vielleicht nach Heimspiel aus, aber so einfach wurde es nicht. Die Künstler:innen, mit denen zusammen er das Haus kollektiv leiten wollte, traten zwar einzeln in Erscheinung, aber doch eher in ihren Funktionen als Schauspielende oder Dramaturgen. Es knirschte, der Spielplan blieb anfangs etwas dünn, die Auslastung – es war auch die Zeit nach Corona ­–­ nicht befriedigend. Das hat sich zuletzt verbessert. Zudem hat er mit den Choreo­grafinnen Constanza Macras und Florentina Holzinger zwei starke Künstlerinnen ins Boot geholt.

Freundschaften waren für René Pollesch eine wichtige Kategorie, die auch das Arbeits­leben leiten sollte. Was nicht einfach ist im Intendantenleben. Das Bedürfnis nach Freundschaft hat er in vielen Stücken verhandelt, auch gerade unter den Bedingungen der Digitalisierung. „Ich habe Nahweltbedarf“, sagte da etwa Fabian Hinrichs in „Kill your darlings“. Viele werden ihn nicht nur als Künstler, sondern auch als Freund vermissen.

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