Straffreie Sterbehilfe: Freier Wille bei schwerer Depression?
In zwei Strafprozessen um die ärztliche Suizidhilfe geht es um den „freien Willen“ bei psychischer Erkrankung. Das ist nicht einfach zu entscheiden.
D ie hohen Zahlen sind schon gruselig, obwohl der Kontakt mit dem Tod zum Leben eines Arztes gehört. In rund 100 Fällen hat der Berliner Ex-Hausarzt und Internist Christoph Turowski Suizidhilfe geleistet. Auch der Psychiater Johann Spittler aus Datteln half mehr als 100 Menschen dabei, sich das Leben zu nehmen. Beide Ärzte stehen oder standen vor Gericht, weil sie auch Menschen, bei denen eine psychische Erkrankung ursächlich war für den Sterbewunsch, beim Suizid assistierten.
Im Falle von Spittler, 82, urteilte das Gericht, die psychische Erkrankung von Oliver H., der an paranoider Schizophrenie litt, habe dessen „freie Willensbildung“ aufgehoben. Spittler hätte ihm nicht die Infusion anlegen dürfen, die Oliver H. dann selbst startete.
Turowski., 74, steht vor Gericht, weil er einer hochdepressiven Patientin zum Suizid verhalf, obwohl sie aufgrund ihrer Erkrankung „nicht zu freier Willensbildung“ in der Lage war, so die Anklage. Spittler wurde zu drei Jahren Haft verurteilt wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft. Ein ähnliches Urteil droht Turowski.
Die Fälle der beiden Ärzte zeigen, in welchem rechtlichen Graubereich die ärztliche Suizidhilfe agiert. Die Liberalisierung, die durch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom Februar 2020 eingetreten ist, stößt in der Praxis an strafrechtliche Grenzen.
Autonom gebildeter freier Wille
Das Verfassungsgericht gab vor, damit die Suizidhilfe straffrei bleiben könne, müsse der Entschluss des Sterbewilligen zur Selbsttötung unter anderem „auf einem autonom gebildeten freien Willen“ gründen. Eine freie Entscheidung setze voraus, den Willen „frei und unbeeinflusst von einer akuten psychischen Störung“ bilden zu können.
Wann kann ein Mensch mit einer psychischen Erkrankung einen freien Willen bilden und wann nicht? Laut einer Stellungnahme des Deutschen Ethikrats schließen „psychische Störungen“ die Fähigkeit zu einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung „nicht automatisch“ aus. Bei Depressionen etwa sei der Ausschluss der Fähigkeit zu einer freiverantwortlichen Suizidentscheidung „vom Ausprägungsgrad der Erkrankung“ abhängig. Bei affektiven Störungen, darunter auch schweren depressiven Episoden, liege in aller Regel eine „normativ relevante Beeinträchtigung der Selbstbestimmungsfähigkeit“ vor, heißt es in der Stellungnahme.
Oliver H., 42, litt seit 13 Jahren unter paranoiden Wahnvorstellungen. Isabell R., die 37-jährige Patientin Turowskis, hatte seit 16 Jahren schwere depressive Phasen und zwei Suizidversuche hinter sich. Genau wegen ihrer chronischen psychischen Leiden wollten die beiden ihr Leben beenden. Schließen immer wiederkehrende psychotische und schwer depressive Phasen aus, dass die Patient:innen sehr wohl wissen, warum sie ihr Leiden nicht mehr ertragen wollen und dass ihre Entscheidung autonom ist und ihr Entschluss von Dauer? Turowski spricht nicht zu Unrecht davon, dass es eine „Diskriminierung“ psychisch Kranker bedeute, wenn man ihnen im Gegensatz zu schwer körperlich Erkrankten die ärztliche Suizidhilfe verweigere.
Nicht ausreichend geregelt
In beiden Prozessen allerdings zeigt sich, dass die Verfahren der Suizidhilfe nicht ausreichend geregelt sind. Sowohl Spittler als auch Turowski haben keinen weiteren Arzt oder Psychiater zur Begutachtung herangezogen. Auch Unterlagen aus der Krankengeschichte der beiden Patient:innen wurden von den Ärzten nicht vollumfänglich gesichtet. Eine solche Eigenmächtigkeit der Ärzte darf nicht sein, jedenfalls nicht, wenn psychische Erkrankungen vorliegen.
Eine Studie des Gesundheitsreferats in München hat kürzlich ergeben, dass in den dort 37 Fällen der ärztlichen Suizidassistenz in den Jahren 2020 bis 2022 die allermeisten Selbsttötungen von Suizidhelfern der Sterbehilfeorganisationen begleitet wurden und nicht von Hausärzt:innen, die die Patient:innen lange kennen. In 17 Fällen lagen die Begutachtung, die Suizidassistenz und die Leichenschau sogar in der Hand eines einzelnen Arztes. Davon hatten acht Fälle psychiatrische Vorerkrankungen, aber es lag kein psychiatrisches Gutachten vor. Eine solche Grauzone erzeugt Unbehagen.
In Österreich zum Beispiel ist die ärztliche Suizidhilfe auch straffrei, aber der oder die Sterbewillige muss vorher von zwei Ärzt:innen, darunter eineR Palliativmediziner:in, gesehen werden. Bei einer psychischen Erkrankung in der Vorgeschichte muss überdies die Entscheidungsfähigkeit von einer Psychiater:in oder klinischen Psycholog:in beurteilt werden.
AG Ethik
In Deutschland sind im vergangenen Jahr zwei Gesetzentwürfe zur Sterbehilfe gescheitert. Die Arbeitsgemeinschaft Ethik in der Medizin arbeitet aber immerhin an einer ärztlichen Leitlinie, die die Verfahren genauer regeln könnte, und zwar keine endgültige juristische Verbindlichkeit besäße, aber berufsethisch eine Orientierung gäbe.
Es wäre gut, wenn die Vorgespräche, die Suizidhilfe selbst und die Leichenschau in den Händen mindestens zweier unabhängiger Ärzt:innen liegen sollten. Bei diagnostizierten psychischen Störungen sollte zwingend eine Psychiater:in hinzugezogen werden, der oder die die Entscheidungsfähigkeit bestätigt oder nicht.
Eine solche Leitlinie könnte auch Hausärzte entlasten, falls ein schwerst Leidender einen Suizidwunsch äußert. Es wäre eine Hilfe, wenn ihnen ein zweiter Arzt oder Ärztin und gegebenenfalls eine Psychiater:in zur Seite stünde, um die Freiverantwortlichkeit festzustellen. Dabei gehen Psychiater:innen mit ihren Gutachten über die „Willensfreiheit“ trotzdem ein Risiko ein, denn jedes Gutachten kann im Nachhinein angefochten werden.
Die Wahrheit ist: Alles, was man in der Suizidhilfe regelt, wird immer nur eine fragile Hilfskonstruktion sein. Die Tragik des Aktes, wenn ein schwerst leidender Mensch seine eigenen Vitalfunktionen kappt, wird dadurch nicht gemindert.
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