Neuer Roman von Timon Karl Kaleyta: Schräge männliche Selbst-Erkundung
Poproman, Räuberpistole, Thriller: „Heilung“ von Timon Karl Kaleyta ist ein bisschen drüber. Doch gerade das Ungezügelte bereitet Vergnügen.
Wenn Männer über Männlichkeit schreiben, handelt es sich dabei meist um sehr protestantische Unternehmungen. Strenge Gewissensprüfung findet dann statt, der eigene Charakter wird abgesucht nach Anachronismen, nach Erziehungsinhalten aus dem letzten Jahrtausend.
Denn alles Gelernte, alles was man so hineinsozialisiert bekommen hat damals in seine noch kaum behaarte Brust, ist sehr wahrscheinlich frauenfeindlich, selbstzerstörerisch, peinlich und schlecht für die Umwelt sowieso. Da gilt es also, eine Inventur zu machen, da muss sodann alles raus, von der Seele geredet werden, während sich die Leserschaft heimlich langweilt bei dieser öffentlichen Selbstkritik.
Nicht eigentlich das Thema und seine sicher löbliche Bearbeitung ist das Problem, sondern dass die meisten Bücher über Männlichkeit derzeit eben autofiktionale Werke sind, dass sie also mit dem Material auskommen müssen, das eine durchschnittliche Schriftstellerbiografie zwischen Westfalen und Moabit eben so hergibt.
Einen ganz anderen Weg wählt der 1980 geborene Autor Timon Karl Kaleyta in seinem zweiten Roman „Heilung“. Auch bei ihm geht es um Männlichkeit, vor allem aber transportiert er eine dieser Tage selten gelesene Begeisterung für die Möglichkeiten der Literatur. Man meint beim Umblättern Kaleytas nervöses Kichern zu hören, Ausdruck einer geradezu frivolen Freude an all dem, was er für die nächsten Seiten ausgeheckt hat.
Timon Karl Kaleyta: „Heilung“. Piper, München 2024. 208 Seiten, 22 Euro
Und – was soll man sagen – der Autor kichert zu Recht! Diese Antiheldenreise eines verunsicherten Mittdreißigjährigen changiert fröhlich zwischen Thriller, Poproman und Räuberpistole. Anders gesagt: Hier gibt es endlich mal wieder Action!
Schluffi ohne Eigenschaften
Das überrascht wohl in erster Linie den Ich-Erzähler: ein Schluffi ohne Eigenschaften, der über die Jahre eine beachtliche Expertise darin erlangt hat, sich an sein Unglück zu gewöhnen. Ewig schon hat er nicht mehr richtig geschlafen, nachts wälzt er sich von einer Seite auf die andere.
Als sein Arzt ihn fragt, wann er zuletzt geträumt habe, kann er sich nicht erinnern. Der Zusammenhang von Tiefschlaf und Traum, also von Sicherheit und einer Vision, einer Idee für sich selbst, spielt in diesem Roman die größte Rolle. Fehlt das eine, geht das andere verloren.
Dieser traurige und dabei übrigens nicht einmal besonders sympathische Typ hat keine Zukunft, weil er sich keine vorstellen kann. Finanziell ist er völlig abhängig von seiner Frau Imogen, einer erfolgreichen Künstlerin, für die er organisatorische Angelegenheiten geregelt hat, bis er dafür wegen seines Leidens nicht mehr zu gebrauchen war.
Auch ihren drängenden Kinderwunsch kann er nicht erfüllen. Man ahnt, mit diesem Mann ist nicht viel anzufangen. Leise leidet er vor sich hin und fürchtet sich vor dem Tag, an dem Imogen ihn vor die Tür setzt.
Im exklusiven Spa
Vorerst aber schickt sie ihn nur zur Behandlung in Professor Trinkls superexklusives Spa „San Vita“ tief in den Dolomiten. Allein dieser Ort ist die Lektüre des Romans wert. Hier trifft Thomas Manns Zauberberg auf Stephen King und die Brüder Grimm. Es ist wohl fast unnötig zu erwähnen, dass Professor Trinkls Anwendungen sich nicht an der Schulmedizin orientieren.
Anstatt Heilbäder zu nehmen und Wasser zu treten, lässt sich der Erzähler zu einer Bärenjagd überreden, schwimmt mit seinem Kurschatten in einem endlosen Höhlengewölbe und kämpft sich mit letzter Kraft durch einen Schneesturm. Nanu, ist das nicht ein wenig drüber, ein bisschen viel des Guten? Ganz sicher, aber gerade dieses ungezügelte Temperament bereitet Vergnügen.
Die Schocktherapie, der sich der Patient hier unterzieht, entfaltet ihre heilsame Wirkung auch in Bezug auf eine Gegenwartsliteratur, die sich selbst und ihre Themen meist ein wenig zu ernst nimmt. Dr. Kaleyta verordnet ihr eine ordentliche Dosis Fantasie, dazu Krimispannung sowie als Relaxan ein wenig Blödsinn. Und siehe da, der Cocktail wirkt!
Erlösung hat der Erzähler nach seinem Aufenthalt im „San Vita“ zwar nicht gefunden, aber immerhin eine Ahnung, wo er nach ihr zu suchen hat. Alte Erinnerungen sind ihm zu Kopf gestiegen: an seine Großmutter, eine nette alte Dame mit etwas zu positiven Erinnerungen ans „Dritte Reich“; und an seinen alten Freund Jesper, der ihn als Kind schon einmal gerettet hat.
Arbeit und frische Luft
Er reist zu ihm, hilft auf dessen Bauernhof aus und wähnt sich bald im Paradies. Harte körperliche Arbeit und die frische Luft lassen ihn durchschlafen, er spürt eine intensive Verbindung zu der Erde, zu Pflanzen und Tieren und vor allem zu Jesper, der ihm vorlebt, wie das geht: mit und durch wenig glücklich zu sein. Jespers Spiritualität nimmt recht deutliche Anleihen bei der Blut-und-Boden-Ideologie, was den seligen Erzähler aber vorerst nicht stört.
Spektakulärer Höhepunkt dieser Männerfreundschaft ist eine Szene, in der sie zusammen mit selbst gebastelten Keschern den Morgentau von den Feldern streifen, um ihn sich gegenseitig einzuschenken. „Man trinkt ihn mit denen, die einem etwas bedeuten. Du musst Menschen finden in deinem Leben, mit denen du den Morgentau teilen willst. Verstehst du?“ So etwas muss einem erst einmal einfallen!
Der Autor ist mit einer Gabe gesegnet, die in der Prosa seltsamerweise zuletzt kaum kultiviert wurde: Er verfügt über Originalität. Dass er wie nebenbei auch sehr handfeste Themen verhandelt, spricht umso mehr für seinen Roman. Diese Heldenreise ist nicht nur ein großer Spaß, sondern enthält auch eine Warnung vor dem gerade sehr virulenten Wunsch, sein Selbst zu erkunden, den eigenen Kern freizulegen, Frieden mit sich zu schließen.
Kaleyta weist darauf hin, dass das Glück des Einzelnen nicht notwendigerweise ein Vorteil für sein Umfeld oder die Gesellschaft ist. Es kann nicht im Sinne aller sein, dass jeder sein inneres Kind findet oder sich mit den eigenen Dämonen versöhnt, denn mitunter werden auf diese Weise glückliche Monster geschaffen. Auch der Traum des Erzählers, seine Vorstellung von sich als Mann, lässt nichts Gutes hoffen. Denn für andere ist er ein Albtraum.
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