Am hellichten Tag

In Ecuador stürmen Bewaffnete ein Fernsehstudio. Wärter werden in Gefängnissen zu Geiseln. Der Präsident ordnet Militäreinsätze an, um der Gewalt der Banden Herr zu werden

Geiselnahme vor laufender Kamera im Studio von TC Television in Guayaquil am Dienstag Foto: TC ­Television network via AP

Von Katharina Wojczenko, Bogotá

Die Bilder gehen unter die Haut. Schlaksige Männer bewegen sich chaotisch im knallbunten Studio. Sie tragen Cargohosen, dunkle Sweatshirts, auf dem Kopf Baseballkappen und Kapuzen, im Gesicht Mundschutz oder einen Schal.

Sie wirken wie Halbstarke, die für ein TikTok-Video üben. Doch sie haben Gewehre, Pistolen, offenbar Granaten, Dynamit. Im Hintergrund sitzen und liegen auf dem Boden Mit­ar­bei­te­r:in­nen des Fernsehsenders. „Die Polizei muss raus“, sagt wohl der Moderator, dem sie mit dem Gewehr in die Seite stochern und eine Pistole an den Kopf halten. Ein Satz, den die Männer wiederholen. „Sag ihnen, dass wir Bomben haben.“

Das alles lief am Dienstag live im staatlichen Sender TC Televisión, bis die Übertragung unterbrochen wurde. Es passierte gegen 15 Uhr in der Hafenstadt Guayaquil in Ecuador.

Zur selben Zeit drangen auch bewaffnete Gruppen in die Uni ein, entführten Ärzte in einem Krankenhaus in der Stadt. Später befreite die Polizei die Geiseln im Sender und nahm 13 Personen fest.

Schon vor den Gewalttaten in Guayaquil hatte es an mehreren Orten in Ecuador Anschläge und Explosionen gegeben. Mindestens sieben Polizisten wurden entführt. Es ist unklar, wer dafür verantwortlich ist. In den Gefängnissen sind 139 Wärter und Verwaltungsangestellte in der Gewalt von Gefangenen.

Was am Dienstag in Ecuador geschah, gilt als Reaktion der kriminellen Banden auf den 60-tägigen Ausnahmezustand. Den hatte Präsident Daniel Noboa am Montag verhängt, um die Gefängniskrise unter Kon­trolle zu bekommen. Er erlaubt den Einsatz von Militär in Gefängnissen und beinhaltet eine nächtliche Ausgangssperre.

Ecuador ist seit Monaten immer wieder in den Schlagzeilen wegen blutiger Gefängnisaufstände. Zuletzt waren mehrere Wärter als Geiseln genommen worden. Am Sonntag war Adolfo Macías alias „Fito“ aus dem Gefängnis geflohen, bevor er in ein Hochsicherheitsgefängnis gebracht werden sollte. Wohl mit Hilfe seiner Wächter. Fito ist Chef der Bande „Los Choneros“ und gilt als grausamster Verbrecher des Landes.

Daniel Noboa trat im November sein Amt als jüngster Präsident in der Geschichte des Landes an – und mit dem Versprechen, Gewalt und Korruption zu bekämpfen.

In dem einst so friedlichen Land laufen heute zwei Kämpfe ab: Kriminelle gegen den Staat – und Kriminelle gegen Kriminelle, vor allem um die Drogenrouten. Das macht die Situation so schwierig. Jeder Erfolg gegen eine Bande stärkt eine andere – und alle Banden haben Noboas Wahlversprechen als Druckmittel. Wenn seine Wählerïnnen auf ein Ende der Gewalt pochen, könnte er zu Deals mit den Kriminellen gezwungen sein.

Am Dienstag entfloh mitten im Chaos noch Drogenboss Fabricio Colón Pico alias „Der Wilde“ mit weiteren Gefangenen aus einem Gefängnis in der Stadt Riobamba, teilten die Behörden mit. Der Anführer der Bande „Los Lobos“ soll die Ermordung einer Staatsanwältin geplant haben – und ist mit „Los Choneros“ von „Fito“ verfeindet. Noboa will ein neues Hochsicherheitsgefängnis bauen und gefangene Bandenchefs dorthin verlegen. Die Gefängnisse sind Teil des Problems statt der Lösung. Sie sind ein rechtloser Raum, in dem die kriminellen Banden sich wie draußen bekriegen und ihre illegalen Geschäfte weiterführen.

Zwei Kämpfe zugleich: Kriminelle gegen den Staat – und Kriminelle gegen Kriminelle

Am Dienstag sagte Präsident Daniel Noboa den kriminellen Banden im Land per Dekret offiziell den Kampf an. Er erkennt einen „internen bewaffneten Konflikt“ an und bezeichnet 20 kriminelle Banden als „terroristische Organisationen und kriegerische nichtstaatliche Akteure“, die er mit Militäreinsätzen „neutralisieren“ will.

Ecuador befindet sich seit Jahren in einer massiven Sicherheitskrise. Das Land wird mittlerweile „das neue Kolumbien“ genannt. Der Begriff ist unscharf, lässt aber durchklingen, was das Problem ist: Drogenhandel und krasse Gewalt, ähnlich wie in den 80ern und 90ern im Nachbarland. Es geht um das Riesengeschäft mit Kokain, Ecuador ist Durchgang zum europäischen Markt. Mexikanische Kartelle sind beteiligt, allen voran das Sinaloa-Kartell. Und die Banden mischen immer mehr in der Politik mit.

Die Mordrate im Land ist inzwischen eine der höchsten in Lateinamerika. Immer wieder werden Menschen am helllichten Tag erschossen. Der bekannteste Fall war Präsidentschaftskandidat Fernando Villavicencio, der gegen die Korruption zu kämpfen versprach.

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