„Deutschland sollte die Dinge so sehen, wie sie sind“

Südafrika wirft Israel vor dem Internationalen Gerichtshof Genozid vor. Der Historiker Omer Bartov über die Erfolgschancen der Klage, die Situation in Gaza und das Schweigen des Westens

Der Anwalt für Israels Fall vor dem Internationalen Gerichtshof, Omri Sender, sitzt in Robe neben einer Kollegin.

Er soll Israel gegen den Vorwurf des Genozids verteidigen: der Anwalt Omri Sender (rechts) vor dem Internationalen Gerichtshof Foto: Remko de Waal/ANP/imago

Interview Daniel Bax

wochentaz: Herr Bartov, Südafrika klagt Israel vor dem Internationalen Gerichtshof wegen Genozids an. Was halten Sie davon?

Omer Bartov: Ich sehe das positiv. Ein internationales Gremium aus angesehenen Juristinnen und Juristen aus unterschiedlichen Ländern wird darüber beraten – und zwar auf Grundlage der Völkermordkonvention der Vereinten Nationen. Südafrika hat das Gericht außerdem gebeten, Maßnahmen anzuordnen, um die palästinensische Bevölkerung im Gazastreifen zu schützen. Das könnte helfen, die humanitäre Katastrophe zu beenden, die wir dort gerade erleben.

Was hätte es für Folgen, wenn das Gericht Israel wegen Völkermords verurteilt?

Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen müsste sich damit befassen, und zumindest die USA würden wahrscheinlich ein Veto einlegen. Aber viele Länder – auch die USA – haben Gesetze, die es ihnen verbieten, Waffen und Munition an Länder zu liefern, die im Verdacht stehen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder gar einen Genozid zu begehen. Das würde den Druck erhöhen, zu einer Lösung der aktuellen Krise zu kommen, und das wäre eine gute Sache.

Für westliche Regierungen wäre ein solches Urteil sehr peinlich.

Peinlich ist, dass der Westen nichts gegen die humanitäre Katastrophe unternimmt, die sich vor unseren Augen ereignet. Über 24.000 Menschen wurden in Gaza bereits getötet, mindestens zwei Drittel von ihnen Zivilisten, die Hälfte davon Kinder. Die Tötungsrate ist beispiellos, und es gibt wenig Druck auf Israel, um den Konflikt zu beenden.

Sie haben schon sehr früh vor der Gefahr eines Genozids in Gaza gewarnt. Warum?

Zahlreiche hochrangige israelische Politiker – der Premier und der Präsident, viele Minister und Generäle –, haben Dinge gesagt, die im höchsten Maße alarmierend waren. Es wurde dazu aufgerufen, Gaza auszulöschen und es dem Erdboden gleichzumachen. Wenn man solch eine entmenschlichende Sprache aus dem Mund von politischen Anführern und Menschen mit Befehlsgewalt vernimmt, dann hat das Konsequenzen.

Inwiefern?

Es stachelt Menschen auf, insbesondere Soldaten. Viele der hunderttausend Reservisten, die zu den Waffen gerufen wurden, dürften Wähler von Netanjahu, Smotrich und Ben Gvir sein. Wenn sie diese Sprache hören, dann haben sie das Gefühl, dass es keine roten Linien gibt. Das führt dann dazu, dass drei Geiseln erschossen wurden, die eine weiße Fahne geschwenkt haben. Der israelischen Öffentlichkeit ist das nur aufgefallen, weil es drei Geiseln waren und nicht drei Palästinenser. Was mich außerdem besorgt hat, waren die massiven und wahllosen Bombardierungen. Jetzt ist noch viel klarer, dass hier eine Strategie umgesetzt wurde, die vermutlich schon vor dem 7. Oktober erdacht wurde.

Welche Strategie meinen Sie?

Man sagt der Bevölkerung, sie solle ein Gebiet verlassen, und gibt ihnen dafür eine gewisse Frist. Wenn die verstrichen ist, betrachtet man jede Person, die man dort noch antrifft, als potenziellen Kämpfer – egal, um wen es sich handelt. Man schickt Flugzeuge, Panzer und Bulldozer und setzt auf massiven Artilleriebeschuss und massive Bombardierungen, bevor Bodentruppen reingehen, und sprengt Schulen, Moscheen, Krankenhäuser und andere öffentliche Gebäude in die Luft. Es gibt inzwischen viele Bilder, die das Ausmaß der Zerstörung zeigen. Im Ergebnis wurden 1,9 Millionen Menschen vertrieben und die Gegend zerstört, aus der sie stammten. Sie können nicht mehr dorthin zurückkehren. Das, was ich damals befürchtet hatte, ist inzwischen eingetreten.

Ihr Kollege Raz Segal hat Israels Vorgehen in Gaza als „Lehrbuch­beispiel für einen Genozid“ bezeichnet. Sie sind vorsichtiger?

Um einen Genozid zu beweisen, muss man die entsprechende Absicht nachweisen. Das ist das Schwierigste. In diesem Fall wurde offen gesagt, dass man beabsichtigt, die Gegend dem Erdboden gleichzumachen und die Menschen zu vertreiben. Entscheidend ist jetzt die Frage: Wollten sie Gaza – oder zumindest Teile davon – für immer ethnisch säubern? Viele in Israel sagen jetzt, man sollte die Bevölkerung ermutigen, Gaza zu verlassen – auf den Sinai, nach Kanada oder wohin auch immer. Sollte das passieren, könnte man zu dem Schluss kommen, dass es von Anfang an die Absicht war, die Bevölkerung von dort zu vertreiben. Das wäre ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit und könnte als Absicht gewertet werden, „eine Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“, wie es in der UN-Konvention heißt, und damit als Genozid.

Warum?

Wenn man die Bevölkerung aus Gaza vertreibt, zerstört man sie als Gruppe. An diesem Punkt sind wir jetzt. Niemand möchte zwei Millionen Menschen aufnehmen, Ägypten hat große Angst davor. Aber Israel könnte es dazu zwingen, wenn die Weltgemeinschaft jetzt nicht einschreitet. Die Frage ist: Kommt jetzt eine neue Stufe? Das hängt davon ab, was jetzt passiert.

Was befürchten Sie?

Foto: Peter Goldberg

Omer Bartov,

ist israelischer Historiker und gehört zu den weltweit führenden Holocaust-Forschern. Er lehrt an der Brown University in Providence, USA. Im August gehörte er zu den Verfassern der Petition „The Elephant in the Room“, die ein Ende der israelischen Besatzung forderte und von mehr als 2.800 meist jüdischen und israelischen Wissenschaftlern unterzeichnet wurde, darunter Saul Friedländer, Meron Mendel und Eva Illouz.

Wenn die israelische Armee in den Süden reingeht, weil die Hamas dort noch aktiv ist, wird sie noch mehr Zivilisten töten. Wenn nicht, war nicht nur der 7. Oktober ein Fiasko, sondern auch dieser Krieg. Denn Israels Regierung war bisher nicht in der Lage, ihre zwei erklärten Ziele zu erreichen: Sie hat weder die Hamas zerstört noch die Geiseln befreit. Die einzigen Geiseln, die befreit wurden, kamen durch Verhandlungen während eines Waffenstillstands frei. Die anderen sind nicht zurück, und es gibt keinen Grund an­zunehmen, dass sie befreit werden können.

Der Norden des Gazastreifens wurde entvölkert. Das ist noch kein Genozid?

Gewaltsame Vertreibung ist etwas anderes als ein Genozid. Historisch hängen beide Phänomene aber eng zusammen – denken Sie an den deutschen Genozid an den Herero in Deutsch-Südwestafrika oder an den Genozid an den Armeniern im Osmanischen Reich. Beide wurden in die Wüste getrieben, viele sind dort gestorben. Es gibt meiner Meinung nach ausreichend Anzeichen dafür, dass die israelische Armee in Gaza in Kriegsverbrechen verstrickt ist und vermutlich auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen hat. Heute sehen wir zu, dass 85 Prozent der Bevölkerung von Gaza vertrieben wurden, viele von ihnen unter unmenschlichen Bedingungen leben müssen und Hunger und Durst leiden. Wir wissen nicht, was die langfristigen Auswirkungen durch Krankheiten und Seuchen sein werden. Deswegen stehen wir kurz vor einem Abgrund, der als Genozid beschrieben werden kann.

In Deutschland fürchten manche, der Holocaust werde relativiert, wenn man Israel einen Genozid vorwirft. Sie nicht?

Jeder Genozid hat Aspekte, die ihn von anderen unterscheiden. Der deutsche Völkermord an den Juden Europas war einzigartig, weil er sich über einen ganzen Kontinent erstreckte und es industrielle Vernichtungslager gab. Aber in manchen Aspekten ähnelte er anderen Genoziden, etwa in Ruanda oder in Bosnien. So gesehen, war der Holocaust nicht einzigartig. Darüber habe ich ein ganzes Buch geschrieben.

Sie fürchten keinen Missbrauch der Vergangenheit?

„Man kann nicht sagen: Weil die Wehrmacht Kriegsverbrechen begangen hat, können wir Israel nicht kritisieren. Das macht keinen Sinn“

Omer Bartov, Historiker aus Israel

Die Erinnerung an den Holocaust wird von allen Seiten missbraucht. Ich verfolge die öffentlichen Debatten in Israel, da wird die Hamas ständig mit Nazis verglichen. Jeder nutzt oder meidet solche Begriffe aus unterschiedlichen Gründen. Was Deutschland tun sollte, ist, die Dinge so zu sehen, wie sie sind. Wenn die israelische Armee an Kriegsverbrechen beteiligt ist – und es gibt genügend Fakten, die das bestätigen –, dann sollte man darüber sprechen. Man kann nicht sagen: Weil die Wehrmacht Kriegsverbrechen begangen hat, können wir Israel nicht kritisieren. Das erinnert mich an das Argument, dass man aufgrund der deutschen Verbrechen an Russland Putins Krieg in der Ukraine nicht kritisieren dürfe. Das macht keinen Sinn.

Welche Lehren sollte Deutschland aus der Vergangenheit ziehen?

Aus der Vergangenheit lernt man, dass man anderen Staaten oder Organisationen nicht erlauben sollte, mit solchen Verbrechen davonzukommen, indem man dazu schweigt. Deutschland sollte sich wie die Großmacht verhalten, die es ist. Es spricht nichts dagegen, dass sich Deutschland als Freund und Verbündeter Israels sieht. Aber dann sollte es mit Nachdruck daran arbeiten, dass seine Regierung einen anderen Kurs einschlägt.

Hatte der Angriff der Hamas auch eine genozidale Botschaft? Manche sprechen vom größten Massaker an Juden seit dem Holocaust.

Es war ein großer terroristischer Angriff, ein Kriegsverbrechen und möglicherweise ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Wenn man es mit der Charta der Hamas von 1988 in Verbindung setzt, kann man argumentieren, dass es sich um eine genozidale Tat handelt. Es wäre gut, wenn das vor einem internationalen Gericht verhandelt würde. Aber ich halte es für falsch, es mit einem Pogrom zu vergleichen. Ein Pogrom ist Gewalt, die sich gegen eine Minderheit richtet. Solche Formulierungen dienen nur dazu, bestimmte Gefühle hervorzurufen.

Eine Langversion dieses Interviews finden Sie auf taz.de/igh