Jesid*innen im Irak: Multiple Krisen erschweren Rückkehr
Viele Jesid*innen leben noch immer in Flüchtlingslagern im Nordirak. Der Staat hilft weder beim Wiederaufbau, noch gedenkt er des Völkermords.
„Man weiß nicht, wo man hingehen kann, wo sie als nächstes zuschlagen“, erzählt die 28-jährige Riham Hico über ihren Alltag in Sindschar im Nordirak. „24 Stunden lang fliegen Kampfdrohnen, Aufklärungsdrohnen und die türkische Luftwaffe über uns. Das erzeugt Angst, besonders bei Frauen und Kindern.“
Vor dem Einmarsch des IS lebte die Mehrheit der Jesid*innen im Irak, überwiegend im Distrikt Sindschar. Obwohl der IS seit 2017 bekämpft ist, sind nur wenige nach ihrer Flucht zurückgekehrt. Die gleichnamige Stadt beherbergte einst rund 70.000 Menschen. Heute sind es kanpp 2.000.
60 Prozent der Einwohnenden von Sindschar lebten immer noch in Vertriebenenlagern oder Übergangsbehausungen, sagte der Bürgermeister Naif Saido im August dem kurdischen Sender Rudaw. Die irakische Regierung versäume, die zerstörten Häuser wiederaufzubauen. Außerdem verhinderten politische Rivalitäten die Rückkehr. Denn in Sindjschar ringen viele bewaffnete Kräfte um die Kontrolle. Darunter die kurdischen Peschmerga, die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und die Iran-nahen Popular Mobilization Forces (PMF).
„Es herrscht keine stabile Lage in Sindschar“, sagt Kamal Sido von der Gesellschaft für bedrohte Völker. „Der islamische Staat und Gruppierungen des radikalen Islam sind noch in der Region. Die Türkei fliegt fast täglich Luftangriffe, vor allem mit Kampfdrohnen. Von einer stabilen Infrastruktur kann man gar nicht sprechen, es gab ja keine Möglichkeit, wiederaufzubauen.“
Selbstverwaltung statt failed state
Shanuz Khudaida Kari war 14, als sie mit ihrer Familie vor dem IS in die Berge von Sindschar floh. 2015 kehrten sie in ihr Dorf Sheva Resh zurück. „Die Menschen suchen nicht nach Arbeitsmöglichkeiten oder eröffnen Geschäfte, weil sie kein Vertrauen in die Sicherheit haben“, sagt die heute 23-Jährige. „Sie führen ein schwieriges Leben, da die meisten Sindschar-Gebiete landwirtschaftlich geprägt sind, so dass sie davon als Einkommensquelle abhängen, ebenso wie von den Tageslöhnen“, erzählt Kari.
Sie selbst arbeitet als Landwirtin und besitzt ein Stück Land. 2017 bekam sie von der Organisation DORCAS ein Gewächshaus. Die Welthungerhilfe konnte sie mit Geldern des Entwicklungsministeriums und der Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) mit dem Rest ausstatten – Pflanzensamen, Düngemittel und ein kleiner Traktor. Heute baut sie unter anderem Gurken, Sellerie und Tomaten an. Sie verkauft das Gemüse auf Märkten, das Geld reicht für den Lebensunterhalt.
„Im Irak wurde keine Aufarbeitung gemacht. Politik, Parteien und Moscheen erinnern nicht an den Völkermord.“, erklärt Sido und nennt das Dorf Kocho, in dem der IS Jesid*innen gesammelt erschossen hat. „Dort weht auf dem Dach einer Schule die irakische Flagge, darauf steht: Allahu Akbar. Unter diesem Ruf hat der IS Menschen massakriert. Wie können sich die Menschen dann geschützt fühlen, unter dem Hauptsymbol des Staates, der die Minderheiten schützen soll?“
Die 28-jährige Hico erzählt: „Wenn wir auf die staatliche Kommune warten würden, müssten wir monatelang auf Strom warten. Die Menschen haben deshalb eine Selbstverwaltung gegründet, die Brunnen baut, Stromleitungen legt oder die Straßen sauber macht.“ Hico ist Sprecherin der Jesid*ischen Frauenbewegung Tajê, die sich nach dem Genozid gegründet hat. „Wenn wir möchten, dass Leute zurückkehren, können wir nicht darauf warten, dass sich etwas ändert. Der Genozid hat gezeigt, dass das Gesellschaftsmodell und Staatsmodell im Irak nicht funktioniert. Deshalb verwalten wir uns selbst.“
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