Rote Nelken, Erbsensuppe und Prügel

Auch am 105. Todestag von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht ist ein bunter Mix von Linken zusammengekommen. Viel mehr als einer Gedenkveranstaltung gleicht die Demo einem sozialen Happening

Alle Jahre wieder: Gedenken für Karl und Rosa auch unter viel jugendlicher Beteiligung  Foto: Stefan Boness/Ipon

Von Lilly Schröder

Die Nelke hält er fest in der Hand. „Das Leben auf der linken Seite ist eine Bereicherung“, sagt der bärtige Mann mit Mütze. Gemeinsam mit Tausenden linken Ge­nos­s*in­nen begibt er sich an diesem Sonntag an die Gedenkstätte der Sozialisten, um der Re­vo­lu­ti­ons­füh­re­r*in­nen Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu gedenken. Sie waren am 15. Januar 1919 durch faschistische Freikorps ermordet worden.

Mit bedachter Miene legt die Linke Bundes-Parteispitze, Janine Wissler und Martin Schirdewan, an dem sozialistischen Wallfahrtsort Kränze auf Luxemburgs und Liebknechts Gräbern nieder. Auch die Landesvorsitzenden, Franziska Brychcy und Maximilian Schirmer, legen einen Kranz nieder. Dann folgt das Fußvolk.

Für viele Altlinke ist dieser Gedenktag ein emotionaler Tag. So auch für Peter, einen ehemaligen Hafenarbeiter aus Hamburg. Er ist 1939 geboren. Durch einen Kollegen vom Schiffbau politisierte er sich und trat mit 17 Jahren in die SPD ein. 1961 wurde er rausgeworfen und trat in die illegale KPD ein. „Das war eine wilde Zeit“, sagt er. Heute ist er in der Linken.

Von Wagenknechts neuer Partei, dem Bündnis Sahra Wagenknecht, hält er jedoch nichts. „Das ist nicht meine Politik“, sagt Peter. „Die gibt Sachen von sich, die nicht der Realität entsprechen.“ Auch ein groß gewachsener Mann, der die Internationale verkauft, ist von dem Bündnis wenig überzeugt. „Mit ihrer Migrationspolitik macht sie der AfD zu viele Zugeständnisse“, sagt er.

Die Unruhestifterin ist an diesem Sonntag nicht zu sehen. Auch wenn sie nicht befürchten muss, Soja-latte trinkenden „Lifestyle-Linken“ über den Weg zu laufen. Vielmehr als um Lifestyle-Probleme geht es hier um die Gesamtinteressen der Arbeiter*innen. Um diese zu vertreten, stehen linke Vereinigungen in einer Festmeile roter Stände vor dem Friedhof. Freudig wird Glühwein mit Schuss ausgeschenkt – natürlich nur Havanna-Club aus dem sozialistischen Bruderland. An einer Bushaltestelle wird der DDR-Oktobersong gesungen.

„Schmeißt die pro-Nato- und prozionistischen Arbeiterführer raus“ steht auf einem Plakat vor dem Spartakisten-Zelt. „Schluss mit der US-Blockade #unblockcuba“ steht auf einem anderen. „Millionärs-Steuer jetzt!“, „Enteignen, aber richtig“ und „Stoppt die Bundeswehraufrüstung“, fordert die Deutsche Kommunistische Partei.

Zwischen Erbsensuppe und Bratwurst diskutieren hier Linke jeglicher Coleur. „Erzähl doch nicht so einen Quatsch!“, sagt ein älterer Herr zu einem Mann in Fellmütze, der seine Suppe schlürfend Stalin verteidigt. Während der Berliner Aufarbeitungsbeauftragte Frank Ebert auf dem Friedhof der Opfer des Stalinismus gedenkt und vor Geschichtsvergessenheit mahnt, verfällt manch anderer in Ostalgie. „Die Annexion der DDR verschaffte dem deutschen Imperialismus die Basis, sein Weltmachtstreben auf dem Rücken aller auszuagieren“, heißt es auf einem Flyer des Vereins „Unentdecktes Land“.

Neben Altlinken finden sich auch einige Jugendliche zusammen. Viele organisierten sich, weil sie gebeutelt seien „von einer Krise nach der nächsten“, erzählt ein Mädchen von der Gruppe Funke. Gegen 12 Uhr biegt ebendiese Jugend unter ohrenbetäubender „Bella Ciao“-Begleitung auf die Friedhofstraße ein. Vom U-Bahnhof Frankfurter Tor sind sie über die ehemalige Stalinallee zum Sozialistenfriedhof gezogen. Dieses Jahr unter dem Motto „Gegen Krieg und Krise! Für Frieden und Solidarität!“.

„Der Roten Jugend die Straße frei!“, skandieren sie. Angesichts all der Krisen mache sie sich Sorgen, erzählt ein Mädchen. „Und die Politik ändert nichts.“ Deshalb sei sie seit Kurzem Mitglied der Revolutionären Jugend. Eine andere Demonstrantin, die bei der „Jugend der Notwendigkeit“ mitläuft, erzählt: „Ich wolle nicht zu den Extremen greifen, aber die Politik hat mir keine Wahl gelassen.“ Was das genau bedeutet, bleibt unklar.

Was sie denn fordere? „Die Revolution“. Und was das bedeute? „Na ja …, halt gegen den Imperialismus und die Nato und so“. Na dann mal los Genossin. Vielmehr als einer Gedenkveranstaltung gleicht die Demo einem sozialen Happening. Was früher Harry Styles Konzert war, ist heute Luxemburg-Liebknecht-Demo. Wenn auch mit stetig sinkender Teilnehmer*innenzahl. In den letzten Jahren erreichte sie, auch pandemiebedingt, ihren Tiefpunkt. In diesem Jahr sind es nach Angaben der Polizei mehr als 3.000 Teilnehmer*innen.

Das Gedenken an die KPD-Märtyer*innen knüpfen sie an aktuelle politische Forderungen. „Wir demonstrieren für Frieden und internationale Solidarität, gegen Ausbeutung, gegen den Abbau demokratischer Rechte und das Anwachsen faschistischer Gefahren“, heißt es vonseiten der Organisator*innen. Laut sind auch die „Free, free Palestine“ Chöre. In Pali-Schals vermummt fordern sie „Weg mit dem Verbot der PKK!“.

Demo-Unterstützer ist auch der politisch entgleiste Diether Dehm, der während der Pandemie wegen der Verbreitung von Verschwörungstheorien Aufmerksamkeit erhielt.

Plötzlich dreht sich der Demonstrationszug. Es ist Rückzug angesagt. „Irgendwo sind die Bullen reingerattert“, erklärt eine aufgebrachte, rot maskierte Demonstrantin. Blocks vermummter Jugendlicher rennen die Karl-Marx-Allee runter. „Bullen, Schweine, Lügner, Mörder!“, rufen sie. „Hass, Hass, Hass, Hass wie noch nie, All Cops are Bastards, ACAB!“

Und tatsächlich sind die Bullen „reingerattert“. Jugendliche hocken auf dem kalten Asphalt, Spuckefäden hängen ihnen aus dem Mund, ihre Nasen bluten und färben den Bürgersteig rot. Vor einem Wagen mit der Aufschrift: „Yemen, Yemen make us proud, turn another ship around“ war es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei gekommen. „Das wird noch ekelhaft“, sagt ein rot vermummter Jugendlicher.