Schwerwiegende Vergangenheit

Der Romanist Walther Bernecker beschreibt in seinem Buch „Geschichte und Erinnerungskultur“, wie in Spanien das Gedenken an die Opfer der Franco-Diktatur bis heute von rechts bekämpft wird

Deutlich sichtbar: Einschuss­löcher am Gemäuer des Museums Santa Cruz in Toledo. Zu Zeiten des Bürgerkriegs war darin ein Krankenhaus Foto: Samuel Aranda/NYT/Redux/laif

Von Reiner Wandler

Spanien wird dieser Tage von den Geistern der Vergangenheit heimgesucht. Die Rechte protestiert gegen die Wiederwahl des Sozialisten Pedro Sánchez zum Ministerpräsidenten und gegen seine Bündnispolitik mit den Parteien aus der nach Unabhängigkeit strebenden Peripherie­. Sie führen Fahnen aus Zeiten der Franco-Diktatur mit sich, rufen ewiggestrige Parolen und singen faschistische Hymnen. Es mobilisiert nicht nur die rechtsextreme Vox, drittstärkste Fraktion im spanischen Parlament, sondern auch die konservative Partido Popular (PP).

Spaniens Konservative haben keinerlei Berührungsängste. Sie gehen überall dort mit Vox ­zusammen, wo es zur Mehrheit reicht. Fünf Regionen und über 130 Gemeinden werden von ­einer Rechtskoalition regiert. Und überall ist eine der ersten Amtshandlungen die ­Streichung aller Programme, die der Vergangenheits­aufarbeitung dienen.

Es gibt keine Zuschüsse mehr für die Suche nach Massengräbern, in denen bis heute, über 80 Jahre nach Ende des spanischen Bürgerkriegs, mehr als 100.000 Opfer der Faschisten liegen. Und dort, wo die Namen derer, die 1936 gegen die Republik putschten und Massaker unter Demokraten, Gewerkschaftern und Linken anrichteten, dank staatlicher Politik von Straßen und Plätzen verschwunden waren, kehren diese auf Straßenschilder zurück.

Der ehemalige Dekan der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät in Nürnberg und Spezialist in spanischer Kultur und Politik, Walther Bernecker, nimmt sich in seinem neuen Werk „Geschichte und Erinnerungskultur“, des „Deutungskampfs um Vergangenheit und Gegenwart“ dem Thema an. Er versucht dem deutschen Publikum zu erklären, wie es möglich ist, dass bis heute in Spanien um die ­Deutung der Vergangenheit gerungen wird – eine Debatte, die in Deutschland, mit Ausnahme der Ultrarechten, längst geklärt und die Verurteilung des Nazismus gesellschaftlicher Konsens ist.

Bernecker spannt bei seiner historischen Einordnung der (fehlenden) Erinnerungskultur den Bogen vom Ende des Bürgerkrieges bis heute. Er zeigt auf, wie in 40 Jahren Diktatur nur derer gedacht wurde, die auf der „nationalen Seite“ kämpften. Verteidiger der Republik galten bis zum Ende der Diktatur als Feinde Spaniens. Doch wer nach General Francos Tod und dem Übergang zur Demokratie eine Aufarbeitung der dunklen Vergangenheit erwartete, sah sich getäuscht.

„In den auf Francos Tod folgenden zwei Jahrzehnten legten die politischen Eliten (egal welcher Couleur) in der Frage der Vergangenheitsaufarbeitung eine auffällige Zurückhaltung an den Tag“, schreibt Bernecker. Es lag zum einen am Wunsch nach Aussöhnung und zum anderen an der Angst vor erneutem Konflikt. Diese gesellschaftliche Amnesie wurde gar als „Kultur des Übergangs zur Demokratie“ verklärt. Ein „klarer demokratischer Bruch mit der Diktatur“ blieb aus, konstatiert Bernecker.

Erst zum Jahrtausendwechsel – 25 Jahre nach Ende der Diktatur – sollte sich dies ändern. Es entstand eine soziale Bewegung zur Erinnerung an Opfer der faschistischen Repression. Familien begannen die sterblichen Überreste ihrer Angehörigen zu suchen, die ohne Gerichtsverfahren erschossen und verscharrt worden waren. Die Politik folgte zögerlich, 2007 wurde ein erstes „Gesetz zum historischen Gedenken“ erlassen, 2022 folgte das „Gesetz des demokratischen Gedenkens“. Erstmals werden Familien bei ihrer Suche nach den Verschwundenen unterstützt.

Faschistische Namen verschwanden aus dem Straßenbild. Der Leichnam Francos wurde aus einem Mausoleum in den Bergen Madrids in ein Familiengrab umgebettet. Das gleiche gilt für den Gründer der faschistischen Falange und einen der wichtigsten faschistischen Putschgeneräle an Francos Seite.

Es gibt keine Zuschüsse mehr für die Suche nach Opfern der Faschisten, die in Massengräbern verscharrt wurden

Jeder dieser Schritte war von rechten Protesten begleitet. „Das Spanienbild der Ultranationalisten – in Teilen auch das des Partido Popular – benötigt eine zusammenhängende und begeisternde Historie, um ihr nationales Narrativ mit Glanz präsentieren zu können“, resümiert Bernecker. Der erbitterte Kampf gegen jedwede Aufarbeitung der jüngsten Geschichte ist ein Kampf um die ideologische Hegemonie, darum, was Spanien ist und sein soll.

„Sánchez oder Spanien“ ist oft zu hören. Für die Rechte – Vox und PP – ist der Sozialist Pedro Sánchez, der mit Unterstützung der gesamten Linken und der Unabhängigkeitsparteien aus Katalonien, dem Baskenland und Galizien Vox und PP den Weg an die Macht versperrte, ein „Feind Spaniens“ und ein „Vaterlandsverräter“.

Berneckers Band ist der perfekte Einstieg für all diejenigen, die verstehen wollen, wie dies über 80 Jahre nach Ende der Franco-Diktatur mitten in Europa möglich ist.

Walther L. Bernecker: „Geschichte und Erinnerungskultur. Spaniens anhaltender Deutungskampf um Vergangenheit und Gegenwart“. Verlag Graswurzelrevolution, Nettersheim 2023. 78 S., 10,90 Euro