Abschiebestopp auf Zeit

Der Irak ist für êzîdische Frauen und Kinder gefährlich, in NRW dürfen sie deshalb vorerst bleiben. Doch langfristige Sicherheit fehlt, die Bundesregierung bleibt bisher untätig

Von Tobias Bachmann

Als erstes Bundesland hat Nordrhein-Westfalen am Montag einen Abschiebestopp für êzîdische Frauen und Kinder verhängt. Er gilt zunächst für drei Monate, also bis 18. März 2024.

Der Erlass des Ministeriums für Flucht und Integration kann einmalig um drei Monate verlängert werden. Und das Land scheint gewillt, dies zu beschließen und damit seine rechtlichen Möglichkeiten auszuschöpfen, sollte sich keine bundesweite Lösung erzielen lassen.

Die Landesregierung erklärt den Schritt mit den „erheblichen Gefahren“ wie „Zwangsprostitution, Verschleppung und Versklavung“ für êzîdische Frauen und Kinder im Nordirak. Dabei beruft sich das Land nicht nur auf Berichte von Menschenrechtsorganisationen, sondern auch auf den Lagebericht des Auswärtigen Amts. Dieser sei in dieser Hinsicht „sehr deutlich“. Leider, so heißt es in der Erklärung weiter, „ziehe das für Rückführungen bzw. deren Aussetzung zuständige Bundesinnenministerium daraus keine Konsequenzen“.

Aus Sicht der zuständigen Ministerin Josefine Paul (Grüne) ist das ein gravierendes Versäumnis. Paul berichtet, sie habe sich bei Nancy Faesers Bundesinnenministerium „mehrfach und über einen längeren Zeitraum für einen bundesweiten Abschiebestopp eingesetzt“. Die Bemühungen seien bisher erfolglos geblieben. Aufgrund der „verheerenden menschenrechtlichen Situation, insbesondere für Frauen und Kinder“, ruft sie Faeser nun noch einmal dazu auf, „schnellstmöglich eine rechtssichere Perspektive“ für die in Deutschland lebenden Êzî­d*in­nen zu schaffen.

„Der Bundestag hat sich zum Schutz êzîdischen Lebens verpflichtet“

Düzen Tekkal

Das Bundesinnenministerium sieht nicht sich in der Verantwortung, sondern die Innenministerkonferenz (IMK) der Länder. Diese könne „auf Antrag eines Landes“ einen Abschiebe­stopp beschließen, schreibt ein Sprecher auf Rückfrage der taz. Der Bund könne dann sein Einvernehmen erteilen. Bei der letzten IMK Anfang Dezember wurde kein solcher Antrag gestellt, genauso wenig im Juni, als die IMK die Schutzanerkennung von Êzî­d*in­nen aus dem Irak zwar besprochen, aber keinen Abschiebestopp beschlossen hat.

Ob das Land NRW einen bundesweiten Abschiebestopp für Êzî­d*in­nen erneut auf die Tagesordnung der IMK setzen wird, wollte die Pressestelle des dortigen Ministeriums für Flucht und Migration gegenüber der taz vorerst nicht kommentieren. Die nächste IMK soll im Juni 2024 in Potsdam stattfinden. Dann würde auch die Verlängerung des gerade beschlossenen NRW-Abschiebestopps auslaufen.

Ob sich weitere Bundesländer am temporären Abschiebestopp in NRW ein Vorbild nehmen, ist derzeit ungewiss. Auf taz-Rückfrage antworteten die Innenministerien von Hessen, Bayern, Berlin und Niedersachsen, sie würden sich zunächst weiter an den Vorgaben des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) orientieren. Das hatte bereits im Jahr 2017 den gruppenbezogenen Schutzstatus aufgehoben und auf eine Einzelfallprüfung umgestellt.

Dass Êzî­d*in­nen bundesweit wieder vermehrt abgeschoben werden, ist nicht nur vor dem Hintergrund der bedrohlichen Menschenrechtslage im Irak politisch brisant. Erst im Januar dieses Jahres hat der Bundestag den Überfall des Islamischen Staat (IS) auf die êzîdischen Siedlungsgebiete im Nordirak in 2014 einstimmig als Genozid anerkannt und sich zudem ausdrücklich zum Schutz êzîdischen Lebens bekannt.

Ob es der Hungerstreik von Êzîd:in­nen war, der zum Abschiebestopp in NRW geführt hat? Foto: Fo­to:­ Miriam Klingl

Die Autorin Düzen Tekkal, die sich mit ihrer Menschenrechtsorganisation Háwar Help für die Interessen der Genozid-Überlebenden einsetzt, findet, daraus sollte ganz klar ein bundesweiter Abschiebestopp folgen. Dass stattdessen mittlerweile Menschen Abschiebebescheide bekommen, die hier ein Studium oder eine Ausbildung begonnen haben, ist für Tekkal ein Vertrauensbruch. „Der Bundestag hat sich mit Nachdruck zum Schutz êzîdischen Lebens verpflichtet. Wenn ein Jahr später Êzî­d*in­nen abgeschoben werden, muss man die Frage stellen, ob der Beschluss des Bundestags nur Symbolpolitik war“, sagt sie.

Schätzungen von Pro Asyl zufolge sind in Deutschland 5.000 bis 10.000 Êzî­d*in­nen von einer Abschiebung in den Irak bedroht. Im Oktober traten einige von ihnen deshalb in einen Hungerstreik und campierten vor dem Bundestag. Tekkal und andere hatten parallel einen offenen Brief an die Bundesinnenministerin geschrieben und einen bundesweiten Abschiebestopp gefordert. Eine Reaktion der Innenministerin gab es auch darauf nicht.

Den aktuellen Vorstoß aus NRW bezeichnet Tekkal als einen „Anfang, der die Richtung vorgibt für einen bundesweiten Abschiebestopp für Êzîd*innen“. Auch wenn sie besorgt sei, „was über die drei Monate hinaus passiert, und vor dem Hintergrund, dass êzîdische Männer nicht Teil des Beschlusses sind und Familien so fürchten müssen, getrennt zu werden“. Dennoch zeige der Erfolg aus NRW, dass politischer Druck wirkt, so Tekkal. Andere Bundesländer sollten sich ein Beispiel daran nehmen, bis es zu einem bundesweiten Abschiebestopp kommt, so Tekkal.