Explosives Kulturgut

Die BDS-Vorwürfe gegen Adania Shibli seien haltlos, heißt es einstimmig aus dem deutschen Feuilleton. Doch die Autorin und „LiBeratur“-Preisträgerin sprach sich schon mehrfach für einen Boykott Israels aus

Schweigt zu den Vorwürfen: die Autorin Adania Shibli   Foto: Marco Destefanis/Alamy/Mauritius Images

Von Julia Hubernagel

Eine kleine Auszeichnung zieht weite Kreise. Der mit 3.000 Euro dotierte „LiBeraturpreis“ sollte in diesem Jahr an die in Israel geborene palästinensische Schriftstellerin Adania Shibli gehen. Preisgekrönt wird ihr Buch „Eine Nebensache“, in der die historisch aufgearbeitete Vergewaltigung eines Beduinenmädchens durch israelische Soldaten 1949 im Fokus steht. Ereignet hatte sich das Verbrechen in der Negevwüste nahe dem Kibbutz Nirim, das heute, 74 Jahre später, brutal von Hamas-Terroristen überfallen wurde. Angesichts des Kriegs jedoch entschied sich der den Preis vergebende Verein Litprom dazu, die Verleihung an Shibli auf die Zeit nach der Frankfurter Buchmesse zu verschieben. Eine Entscheidung, die Kritik nach sich zog. So unterschrieben mehrere hundert Autor:innen, darunter etwa Annie Ernaux und Abdulrazak Gurnah, einen offenen Brief, der die Verschiebung kritisierte. Mehrere arabische Verlage und Verlegerverbände haben ihre Teilnahme an der Frankfurter Buchmesse mittlerweile abgesagt. Berichtet wird weltweit.

Dass die Preisvergabe kurzfristig verschoben wurde, dürfte auch an der medialen Kritik gelegen haben. In der taz erinnerte Carsten Otte daran, dass der WDR-Journalist Ulrich Noller aus Protest schon in diesem Sommer aus der den „LiBeraturpreis“ vergebenden Jury ausstieg, da Shiblis Roman ihm zufolge „antiisraelische und antisemitische Narrative“ bediene. Otte kritisierte die Einseitigkeit des Romans, der Israelis als „Vergewaltiger und Killer“ und Palästinenser als Opfer darstelle. Ein Standpunkt, der in nahezu allen großen deutschen Feuilletons für Empörung sorgte.

Über „Eine Nebensache“ kann jeder urteilen, wie er mag. Das schmale Buch ist im Handel erhältlich, der Vorwurf der Zensur, der die abgesagte Preisverleihung umkreist, ist auch deswegen unsinnig, da der Wirbel um Shibli die Verkaufszahlen deutlich in die Höhe treiben dürfte. Der Roman ist in zwei Teile geteilt, erzählt aus zwei verschiedenen Perspektiven. Die palästinensische Protagonistin, die den Ereignissen von 1949 viele Jahrzehnte später nachspürt, gibt Einblick in ihr Inneres, lässt die Leserin teilhaben an der Angst, die sie angesichts von Checkpoints und Militär empfindet. Gesichtslos, absichtlich unscharf skizziert sind wiederum die israelischen Soldaten von 1949. Wie die FAZ zu dem Schluss kommt, in dem befehlsführenden Offizier einen „ambivalenten Täter“ zu sehen, ist nicht nachvollziehbar. Dass ein Skorpionbiss die Urteilskraft des Offiziers trübt, ist richtig, und ein Faktor, den nicht nur die FAZ als Beispiel für die angeblich menschliche Darstellung des Isrealis bemüht. Dass auch alle anderen Soldaten das Beduinenmädchen vergewaltigen, ja, sich „eifrig an die Planung machten, wer wie viel Zeit mit dem Mädchen verbringen dürfe“, bleibt indes in den meisten Rezensionen unerwähnt.

Ob Motive wie Insekten, die mit Menschen in Verbindung gebracht werden, oder die anzitierte Brunnenvergiftung antisemitische Bildsprache bedienen, sollte sich zumindest fragen lassen dürfen. Was jedoch vor allem für Entrüstung sorgte, ist der von Otte geäußerte Vorwurf, Adania Shibli stehe dem BDS (abgekürzt für Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen) nahe. Die Kampagne, die auch im deutschen Kulturbetrieb Fans hat, ruft dazu auf, „die Besetzung und Kolonisation allen arabischen Landes“ zu beenden – bewusst offenlassend, ob „alles“ nicht vielleicht das gesamte israelische Staatsgebiet einschließt. Dass Shibli sich in der Bewegung engagiert, entspreche nicht der Wahrheit, gibt dazu der Berenberg Verlag zu Protokoll. Und auch im deutschen Feuilleton heißt es, Beweise gebe es – außer einer Unterschrift, die Shibli 2019 unter einen vom BDS initiierten offenen Brief setzte, der die Rücknahme des Nelly-Sachs-Preises an Kamila Shamsie anmahnte – keine. Schlichtweg „herbeifantasiert“ sei der Vorwurf, weiß man in der Wochenzeitung Freitag.

Adania Shibli selbst kann man in der Sache nicht befragen. Die Autorin, die sich schon anlässlich der von Ulrich Nollers Juryaustritt begleiteten Antisemitismusvorwürfen nicht äußerte, stehe für Interviews gerade leider nicht zur Verfügung, teilt ihre Literaturagentur auf Anfrage mit. Fälschlicherweise hieß es zuerst, die Absage der Preisverleihung sei eine gemeinsame Entscheidung Litproms, der Buchmesse und Shiblis gewesen, dabei war die Autorin darin nicht eingebunden. Wie eine Sprecherin Litproms mitteilte, sei es da im Austausch mit Shibli und ihrem Verlag „unter Zeitdruck leider zu mehreren Missverständnissen“ gekommen. Belege für die „Behauptung“, Shibli sei eine aktive BDS-Unterstützerin, liegen ihnen nicht vor, schreibt Litprom der taz.

Doch Shibli hat nicht nur das BDS-Pamphlet zu Kamila Shamsie unterschrieben. Gleich auf der ersten Seite der Google-Suche taucht ein weiteres Dokument von BDS auf. Israel habe ein „Apartheidsystem“ geschaffen, welches „schlimmer ist als alles, was jemals in Südafrika existierte“, heißt es darin. Von „ethnischer Säuberung“ ist die Rede in dem 2007 veröffentlichten Boykottaufruf. Unterschrieben hat ihn unter anderem Adania Shibli, die übrigens an der renommierten Hebräischen Universität in Jerusalem studierte. „Eine Fehlleistung“ sei das, kommentiert, darauf angesprochen, ein Sprecher der Buchmesse, eine Fehlleistung, die ein „großartiges Stück Literatur“ nicht über Jahre überschatten dürfe. 2011, vier Jahre nach Unterzeichnen des BDS-Aufrufs, diskutierte Shibli bei einer Schweizer Podiumsdiskussion über den Boykott israelfreundlicher Kulturveranstaltungen unter anderem mit Hind Awwad, der Koordinatorin der palästinensischen BDS-Kampagne. Zitieren lässt sich daraus jedoch nicht, da das Video mittlerweile offline genommen wurde.

Eindeutig positioniert sich Shibli in einem der taz vorliegenden Artikel, den sie in der heute hisbollah-nahen libanesischen Zeitung al-Akhbar publizierte. Der Text ist auf Arabisch noch im Netz zu finden. Der taz liegt eine ins Deutsche übersetzte Fassung vor. Darin schreibt sie über das Toronto Film Festival, das 2009 einen Fokus auf Tel Aviv setzte. Eine Teilnahme an dem Festival, das stellt sie klar, „würde Übelkeit und ein Gefühl fehlender Selbstachtung bei mir auslösen“. Sie wünscht sich, jemand möge etwas tun, „um die israelische Teilnahme dort nicht friedlich über die Bühne gehen zu lassen“. Gegen Ende des Textes philosophiert sie über „explosives Kulturgut“ und nicht näher definierte „Sprengstoffe“, die ein arabischer Künstler in Toronto bei sich tragen könnte.

Vielleicht hat Adania Shibli zum BDS ihre Meinung geändert. Aber wenn ja, warum äußert sie sich dann nicht?

Einige dieser die BDS-Nähe der Autorin belegenden Schriftstücke sind mehrere Jahre alt. Shibli, die schon ihren Journalismus-Abschluss mit der Arbeit „Discourse, power, and media coverage of the killing of Palestinian children by the Israeli Army“ erlangte, könnte ihre Meinung geändert haben, heute gemäßigtere Positionen vertreten. Doch warum äußert sie sich dann nicht? Wie der Berenberg Verlag verlauten lässt, habe Shibli die Preisverleihung nutzen wollen, „um über Literatur in diesen entsetzlichen und schmerzhaften Zeiten zu sprechen.“

Ob das Worte des Mitgefühls gegenüber den jüngst von der Hamas getöteten Israelis einschließen würde, ist nicht bekannt.