„Es braucht mehr Mut zur Kontroverse“

Der Nahostkonflikt stellt Lehrkräfte vor Herausforderungen. Bildungs-initiativen geben Tipps und Kritik

Von Leon Holly

Der Angriff der Hamas auf Israel und die israelischen Bombardements im Gazastreifen führen auch zu Konflikten an Schulen in Deutschland. In der vergangenen Woche etwa war es an einem Berliner Gymnasium zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen einem Schüler und einem Lehrer gekommen, nachdem ein anderer Schüler auf dem Schulhof eine Palästina-Flagge gezeigt hatte.

Götz Nordbruch, der bei der Bildungsinitiative Ufuq Projekte zu islamistischem Extremismus koordiniert, sieht derzeit eine große Verunsicherung unter Lehrkräften. Um kurzfristig Abhilfe zu schaffen, veröffentlichte Ufuq am Freitag eine Handreichung, die Leh­re­r*in­nen bei Gesprächen über den Nahostkonflikt unterstützen soll. Auch die Kreuzberger Initia­tive gegen Antisemitismus (KIgA) hat schnell auf die Eskalation in Nahost reagiert und organisiert nun Veranstaltungen, bei denen sich Lehrkräfte informieren und austauschen können. „Es gibt in der Tat einen Andrang“, sagt der KIgA-Vorsitzende Derviş Hızarcı.

Dabei gehen Schulen in Deutschland offenbar sehr unterschiedlich mit der Krise um. Sanem Kleff, Direktorin der Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“, berichtet von zahlreichen Rückmeldungen von Schü­le­r*in­nen und Lehrkräften aus verschiedenen Einrichtungen: Während an manchen Schulen intensiv über die Gewalt in Israel gesprochen worden sei, habe es anderswo keinen Raum zum Austausch gegeben.

Wie also Lehrkräften helfen? Oft äußerten sie den Wunsch nach einer Checkliste oder einem Leitfaden, meint Nordbruch von Ufuq. „Aber das funktioniert in einer solchen Situation nicht.“ Die Schwierigkeit liege darin, dass an den Schulen unterschiedliche Erfahrungswelten aufeinanderprallen. Jüdische Kinder und Jugendliche hätten Angst, sich im Schulkontext als jüdisch zu outen. Vergangenen Freitag blieben viele von ihnen in Berlin dem Unterricht fern – aus Angst vor Übergriffen.

Andererseits fühlten sich Schü­le­r*in­nen palästinensischer Abstammung mit ihren Erfahrungen zu wenig beachtet, meint Nordbruch. „Das hören wir oft: ‚Wir können unserer Perspektive nicht ansprechen, weil das gleich als antisemitisch gilt.‘“ Die Berliner Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) hat jüngst in einem Schreiben deutlich gemacht, dass Schulen das Tragen der Kufiya, des sogenannten Palästinensertuchs, verbieten können. Untersagt werden können auch der Ausruf „Free Palestine“ sowie Landkarten Israels in den Farben der palästinensischen Flagge.

„Es ist falsch, in der Schule mit Verboten zu arbeiten“

Derviş Hızarcı, Vorsitzender der Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus

Derviş Hızarcı von der KIgA sieht darin eine „Law-and-Order-Mentalität“ der Politik. Es sei grundsätzlich falsch, in der Schule mit Verboten zu arbeiten. „Wie stellt man sich die Umsetzung vor? Jetzt habe ich mein Tuch zu Hause gelassen, aber bin ich deswegen meinen Israelhass oder Antisemitismus los?“ Stattdessen brauche es pädagogische Arbeit. Dieser Forderung schließt sich Sanem Kleff an. In dem Themenfeld sei an Schulen zu wenig gemacht, besonders das Thema Islamismus sei in der Vergangenheit vernachlässigt worden.

Wenn Jugendliche mit muslimischem oder arabischem Hintergrund mit Sprüchen provozieren, steckt Nordbruch zufolge dahinter auch der Wunsch nach Anerkennung. Solche Provokationen zu verbieten sei kontraproduktiv: „Wo, wenn nicht in der Schule, sollen Jugendliche denn auch mit Widerspruch konfrontiert werden? Die Schule ist einer der wenigen Räume, wo das möglich ist.“ Sein Appell: „Es braucht mehr Mut zur Kontroverse.“

Es ist die Aufgabe der Lehrkräfte, diese Auseinandersetzungen zu moderieren. Doch oft werden sie selbst zur Konfliktpartei. Das liegt auch daran, dass der Nahostkonflikt nicht nur unmittelbar Betroffene emotionalisiert. Nordbruch meint: Es mangelt Leh­re­r*in­nen an Zeit und Mitteln, um den Unterricht vorzubereiten oder Fortbildungen zu besuchen. „Wir können Angebote machen. Aber wenn Lehrkräfte nicht die Ressourcen und Schulen nicht die Kapazitäten haben, ist das aussichtslos.“