„Sie suchen nach Sündenböcken“

In Bayern gaben 18, in Hessen 17 Prozent der Wäh­le­r*in­nen unter 30 der extrem rechten AfD ihre Stimme. Der Jugendforscher Klaus Hurrelmann erklärt das mit der Pandemie und fehlenden Perspektiven

Interview Adefunmi Olanigan

taz: Herr Hurrelmann, bei den Landtagswahlen in Hessen und Bayern haben überraschend viele junge Menschen AfD gewählt. Was ist der Grund?

Klaus Hurrelmann: Grundsätzlich sind knapp 10 Prozent der jungen Leute unter 30 natio­nalistisch orientiert und vertreten rechtspopulistische Positionen. Bei denen hat die AfD leichtes Spiel. Ihr Ergebnis liegt aber deutlich darüber. Meiner These nach war das eine Kombination aus Enttäuschung und nicht erfüllten Bedürfnissen. Immer mehr fühlen sich sozial abgehängt und sehen für sich keine Perspektiven. Die Corona­pandemie hat das verschärft. In ihrer Folge ist die Zahl der Jungen, die sich abgehängt fühlen, von 20 Prozent auf mindestens 25, vielleicht sogar 30 Prozent gestiegen.

Wie hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen?

Fast drei Jahre herrschte Ausnahmezustand. Während Corona kümmerte sich die Politik um die Arbeitenden und die Alten. Aber die Jungen standen vor verschlossenen Bildungsinstitutionen. Sie wurden in ihrem Bildungsrhythmus getroffen. Vielleicht haben sie den Schulabschluss nicht geschafft, sind in ihre gewünschte Ausbildung nicht reingekommen oder haben sie abgebrochen und machen heute gar nichts. Zu ihnen gehören viele junge Männer, teils aus Familien, denen es selbst wirtschaftlich nicht gut geht. Sie empfinden das als Demütigung und fühlen sich vernachlässigt. Und Menschen mit diesem Gefühl anzusprechen gelingt der AfD grundsätzlich gut.

Nach der Landtagswahl 2021 in Sachsen-Anhalt wurde auch über die starke Zustimmung junger Ostdeutscher für die AfD diskutiert. Hätten nur die unter Dreißigjährigen gewählt, wäre die AfD dort stärkste Kraft geworden. Als Grund wurden ebenfalls Corona sowie die schwache Infrastruktur im Osten genannt. Inwieweit sind die Ergebnisse vergleichbar?

Sehr direkt: Junge Leute sind sensibel für Entwicklungen. Für alle Regionen in Deutschland zeigt sich: Junge Menschen fürchten, die Wohlstandsjahre sind vorbei, und fühlen sich verunsichert in ihrer sozialen Sicherheit. Sind solche Gefühle des relativen Zurückgesetztseins sehr stark, spielt es keine Rolle, ob ich in Sachsen-Anhalt oder Bayern lebe. Die Menschen suchen dann nach strukturellen Gründen, nach Sündenböcken und wenden sich an die Oppositionspartei, die noch nie regiert hat und sozusagen unschuldig ist an den neuen Verhältnissen. Das kommt der AfD zugute.

Als ein wichtiges Thema für junge Menschen gilt die Bewältigung der Klimakrise. Aber die AfD bietet dafür keine Lösungen. Haben sich die Themen verschoben?

Foto: dpa

Klaus Hurrelmann, 79, ist Sozialwissenschaftler. Nach langer Tätigkeit an der Universität Bielefeld ist er aktuell Senior Professor of Public Health and Education an der Berliner Hertie School.

Ja, die wirtschaftliche Sorge ist dominant geworden. Das war sie schon immer in der Gruppe der ‚Abgehängten‘, die während der Pandemie wuchs. Für sie war auch das Klimathema wichtig, aber an erster Stelle stand schon immer die Frage: Wie komme ich als Einsteiger in Arbeit und Beruf? Wie kann ich vernünftig leben und einen Wohlstand erreichen, der nach eigener Einschätzung Standard ist? Wird hier eine Gefährdung gesehen, etwa durch Themen wie irreguläre Migration, den Krieg oder Inflation, rutscht die Frage noch weiter in den Vordergrund.

Wie können die etablierten Parteien diese jungen Menschen wieder erreichen?

Es kann gelingen. Junge Leute sind themenorientiert. Damit konnten die Grünen, FDP, sogar die SPD bei der letzten Bundestagswahl überzeugen. Als Regierung müssen sie nun vermitteln, dass Kompromisse ein Inbegriff von demokratischer Kultur sind, und erklären, wie politische Entscheidungen getroffen werden. Dabei müssen sie die Leute mitnehmen. Und nicht im stillen Kämmerlein brüten, sich streiten und ein Ergebnis verkünden, das danach wieder infrage gestellt wird. Das zerstört Vertrauen.