Navid Kermani „Das Alphabet bis S“: Lesen als Therapie
In „Das Alphabet bis S“ erzählt Navid Kermani aus weiblicher Perspektive. Die frisch getrennte Erzählerin will alle Romane alphabetisch abarbeiten.
Das macht Navid Kermani so leicht niemand nach: den Sprung in die Szene, in den Konflikt, in die Situation. 365 Abschnitte – woher kennt man die Zahl noch mal? – hat „Das Alphabet bis S“, und immer wieder neu, liebevoll, rätselhaft, soghaft wird man hineingebeamt in diesen je neuen Tag unabhängig von den sehr unterschiedlichen Ereignissen, zähen Kümmernissen, inspirierenden Leseunternehmungen, depressiven Kulturpessimismen oder Alltagsbegegnungen zwischen Hunden und Joggern.
In den ersten Sätzen fallen meist konkrete, oft uneingeführte Namen, werden Szenenbilder schnell und scharf hinschraffiert, und man ist mittendrin, hat aber den Zusammenhang mit einer der schon laufenden Erzählungen noch nicht begriffen. Wir wissen gerade nicht, dass der Protagonist des gerade gelesenen Romans so heißt, dass die Kölner Innenstadt oder der mediterrane Urlaubsort diesen oder jenen Namen bergen.
Dann sind wir beim Zusammenreimen, und dann ist es doch ein vertrauter Strang, der aber nun als irgendwie neu und anders ausgeleuchtet ist, umgedeutet, all dem entrissen, was eine Leier werden könnte. Und das ist manchmal nötig. Wie der großartige und vergleichbare Vorläufer „Dein Name“ hat auch „Das Alphabet bis S“ viele Stränge und Sprünge.
Drohender Zerfall der Inneren Lebensstruktur
Aber im Gegensatz zu der massiven Involviertheit des mitten im Leben Trauernden des Meisterwerks von vor zehn Jahren kennzeichnet den neuen Großroman doch eine starke Gravitation zu Doom und Verzweiflung: Sterbeerzählungen, Älterwerden, Verlust von Vertrauten, Gefahren für Geliebte. In der Summe ergibt das die Umrisse eines drohenden Zerfalls der Organisation des inneren Lebens, der sich dann auch auf die Meinungen zu und Perspektiven auf das öffentliche Leben, die Geschichte, die Politik, die Literatur und die Kunst in Richtung einer mürrischen Mutzigkeit auswirkt.
Navid Kermani: „Das Alphabet bis S“. Hanser, München 2023. 592 Seiten, 32 Euro
Die Hauptfigur weigert sich etwa, ein Smartphone zu benutzen, und nimmt auch sonst nicht sehr enthusiastisch am zeitgenössischen Leben teil. Der psychologische Laie sagt: Hier geht es um den Umgang mit einer exogenen Depression und zwei Strategien dagegen, ein aufschreibendes, selbstbeobachtendes Verarbeiten und den Ausweg des Lesens – auch wenn die Hauptfigur der Depressionsdeutung erwartbar vehement widerspricht, als Herabsetzung und – unausgesprochen – Banalisierung dessen, was Trauer ausmache.
Diese zweite Therapie, das Lesen, begründet auch den Romantitel und ist eine von zwei konzeptuell rahmenden Maßnahmen, die der Roman vornimmt. Durch eine Trennung wird im Bücherregal der Hauptfigur ein Umbau nötig, der Platz schafft und Bücher in Reichweite rückt, die vorher zu weit entfernt standen. Jetzt nimmt sie sich vor, die bisher ungelesenen Autor_innen in alphabetischer Reihenfolge durchzulesen.
Da kann sich Kermanis genresprengendes Talent entfalten, Lesen als inneres Drama oder Abenteuer des Lesenden zu inszenieren. Das will immer wieder was anderes tun, als Philologie oder Rezension oder Fanfiction zu betreiben, trägt aber doch Züge von all diesen Verfahren eines wilden oder absoluten Lesens. Das Desiderat eines literaturbezogenen Gonzo-Journalismus – allerdings dann doch etwas frommer und achtsamer, als Hunter S. Thompson wäre, wenn er ein öffentlicher Leser geworden wäre.
Fantastische Entdeckungen
Leider hält die Hauptfigur nicht alle Leseversprechen (Hans Henny Jahnn, Uwe Johnson), verliert sich auch mal in Lektüren von Autoren, von denen man gonzoistisch sagen müsste, they bore the living daylight out of me (wie Cioran), aber er hat auch fantastische Entdeckungen für mich parat (Péter Nádas habe auch ich nie gelesen und wohl nie so) und die Freude, dass jemand alte Favourites aus der persönlichen Top 5 der Weltliteratur ganz anders entdeckt wie hier José Lezama Lima.
Man könnte bei dieser Rezension auf die Idee kommen, der Rezensent hätte das rezensierte Buch gern selbst geschrieben. Ja und nein. Dies galt vor allem für „Dein Name“, das auf zwei Ideen basierte – das Ich des Autors nur perspektivisch von der Sicht der anderen her zu entfalten und für jeden Verstorbenen, den der Autor persönlich kennt, einen Nachruf zu schreiben –, die ich gern selbst realisiert hätte.
Hier ist es nur das Abarbeiten der eigenen Bibliothek als ein weiterer objektivierender, regelhafter Versuch, der eigenen Subjektivität eine Dinghaftigkeit abzutrotzen, den ich schon immer selbst gerne realisiert hätte.
Erzählung aus weiblicher Perspektive
Der andere konzeptuell-rahmende Einfall ist eher irritierend, aber nicht nur ärgerlich und punktuell auch ganz stark: Kermani erzählt aus weiblicher Perspektive. Die Ich-Erzählerin gleicht ansonsten weitgehend dem Autor, macht dasselbe, denkt dasselbe, hat dieselben Aufträge, Loyalitäten, Interessen etc. Die weibliche Perspektive beschränkt sich auf wenige Szenen, eine heterosexuelle Affäre mit einem männlichen, real existierenden Autor (aus dem Alphabet) und die wiederkehrende Beschwerde über die gelesenen Autoren, dass sie – typisch für Männer – eitel seien.
Die vom Mann als Ebenbild erfundene Frau erlaubt sich also mitunter eine klischeehaft feministische Anwandlung. Ansonsten ist die Erzählerin dezidiert keine Feministin, gegen „Identitätspolitik“ und bei einer Diskussion mit der realen Helene Hegemann auch schon als „klerikalfaschistisch“ beschimpft worden.
Was Kermani mit dieser Maßnahme bezweckt? Will er der der sogenannten Identitätspolitik zugeschriebenen Position, Leute einer bestimmten Sorte könnten nur für Leute einer bestimmten Sorte sprechen, widersprechen, indem er – omnipotenter Universalismus der schönen Literatur! – demonstriert, dass er auch das Gegenteil doch kann?
Nun, diese viel gegeißelte, vermeintlich authentizistisch-identitätspolitische Position richtet sich ja vor allem negativ gegen die default Allzuständigkeit des immer schon unmarkierten weißen Cis-Hetero-Autors; also gegen ein Machtverhältnis, das die eigene Indifferenz und Selbstverständlichkeitsanmaßung falsch als Universalismus ausflaggt.
Ungleichverteilung des Rederechts
Darüber hinaus enthält sie in keiner mir bekannten relevanten Fassung explizit die ihr oft zugeschriebene Normativität einer prinzipiellen Zuständigkeit der immer nur je Betroffenen. Sie will Stimmen und Diskurse vermehren, nicht beschränken. Allerdings will sie die bisherige Ungleichverteilung des Rederechts politisieren – und da kriegen die, die immer schon Rederecht hatten, schnell die Panik.
Oder will Kermani dem von ihm ungeliebten, aber angesagten Genre der Autofiktion eins auswischen, indem er deren bevorzugtes Thema Transition als eines vorführt, welches er mit bloßer Willens- und Einbildungskraft bewältigt (während alles andere so bleibt, wie es ist)? Dabei ist ja gerade Thema solcher autofiktionaler Transitionsliteratur (Preciado, Nelson, Wark), wie die Fiktionalität erzählter Figuren und die reale Transformation in Verbindung zueinander stehen, nämlich komplex und weder mechanisch noch authentizistisch.
Beide Ideen fände ich so falsch wie unappetitlich. Als Einfall à la Oulipo – wie: einen Roman ohne den Buchstaben e schreiben – gehört es in den Bereich des belletristischen Sports. Stark ist aber, dass man beim Lesen tatsächlich die Stimme einer Frau und die Stimme Navids hört – der Rezensent kennt ihn persönlich –, das gerät zu einem seltsam queeren Effekt.
Man hört Navid als Frau, das hat was. Gerade seine Energie, sein Können machen diesen Effekt aber oft schnell wieder kaputt, denn sein Mitteilungsdrang als der Typ, der er ist und den man kennt, setzt sich natürlich durch – gerade an den gelungensten Stellen, nicht als „wahres Selbst“, sondern als gut eingespieltes Können, als Flexen der Schreibmuskeln.
Dialektische Zeitgenossenschaft
Es entsteht so aber auch eine ganz merkwürdige und in mancher Hinsicht zum Projekt Kermanis sehr passende dialektische Zeitgenossenschaft. Kurz vor der Pandemie habe ich mal ein Seminar über Autotheorie und Autofiktion ausgerichtet, bei dem wir auch „Dein Name“ gelesen haben. Und der passte sehr gut zwischen all die von ihm vermutlich eher abgelehnten Autor_innen queerfeministischer Provenienz und auf der anderen Seite Leuten wie Knausgård.
Mit seiner zentralen Geste gegen und mit dem (vermeintlichen) Zeitgeist rückt der Gegner des Genderns und Verfechter der alten Rechtschreibung in die Mitte einer von ihm abgelehnten Entwicklung und zappelt um sein Leben, den Erhalt der schriftstellerischen Autorität. Das ist ehrenwert und bar jeder Kastrationsangst, die sonst die Leute plagt, die an älteren Rechtschreibordnungen festhalten.
Vor Kurzem hätte ich mit Kermani sein vorangegangenes Buch diskutieren sollen, religiöse Dialoge mit seiner Tochter. Die Pandemie hat es verhindert. Ich hatte mich aber damals gezwungen, mich mit der Religiosität des Autors zu beschäftigen, die ich bei meiner Begeisterung für frühere Texte ihre Wichtigkeit für den Autor verdrängend eher in Kauf genommen oder zu einer poetischen Spiritualität à la Free Jazz zurechtgedeutet hatte.
Hier taucht sie nun in allen Darreichungsformen auf, tatsächlich als spirituelle Poesie, als theologische Nerdigkeit, als protestantische Frömmelei, die sich über originelle Kundmachungen von Kindermündern freut, als tiefgläubiger Überbietungswettbewerb mit einem an Martin Mosebach erinnernden erzkatholischen Freund namens Offenbach oder als parapolitischer Impuls zu einer Politik des Nichtertrinkenlassens.
Rosinen der eigenen Weltanschauung
Wer immer sich aus Kermanis religiösen Output also die Rosinen der eigenen Weltanschauung picken wollte, in meinem Fall den Free Jazz, die Empathie und das Nerdige, sieht sich hier mit dem Panorama ihres Zusammenhangs konfrontiert, der genau so wunderlich wirkt wie für ihn (oder sie) zeitgenössische Diskussionen und Überzeugungen, welche die Welt woke nennen würde.
Diese Spiegelung bezeugt den Reichtum einer inneren Welt, der ich eher Weltverlust vorgeworfen hätte. Sie wird zeitgenössisch im Medium des Wunderlichen, das sich alle Beteiligten gegenseitig zuschreiben. Und dies bleibt nicht der einzige Moment, wo die Erzählerin, die sich von der Gegenwart und ihren Hundebesitzern innerlich abwendet, besonders zeitgenössisch wird.
Sie ist ja auch auf ihrem eigenen Trip, hat nur all die postkolonialen Feministinnen, die sich für das „Postsäkulare“ interessieren, noch gar nicht zur Kenntnis genommen und wie nahe man einander stehen könnte.
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