Die Wahrheit: Welches Land hätten Sie denn gern?
Wo zum Teufel ist eigentlich dieses Deutschland, von dem alle reden? Verschiedene Betrachter kommen zu unterschiedlichen Schlüssen.
A ls allmählich altmodisch – wenn nicht sogar wunderlich – werdender Mensch bin ich besonders an der sozialen Frage interessiert. Das ist die etwas aus der Mode gekommene Erkundigung nach den Problemen „der Leute“ im Geflecht der Dinge, wie sie nun einmal sind – und was dagegen zu tun wäre. Heute scheint es wichtiger, dass „die Zahlen“ stimmen, egal welche, dass „die Märkte“ keinen Schnupfen bekommen und „die Leute“ gefälligst keine Faschisten wählen.
Aus Gründen der Dezenz und Menschenscheu erkundige ich mich natürlich nicht persönlich beim schlurfenden Rentner mit Rucksack auf dem Rücken und Plastiktüten in der Hand, der mit der Taschenlampe die Mülleimer ausleuchtet. Ich denke dann immer an Jürgen Trittin. Im Grunde hat der Mann seinerzeit als Umweltminister mit der Einführung des Pfandsystems das Rentensystem abgesichert, sozusagen nach unten hin.
Gerade in Berlin wird man an jeder Ecke aufgefordert, für irgendeinen unsichtbaren Scheißdreck sich zu engagieren, zu unterschreiben, aufzustehen, Farbe zu bekennen und Gesicht zu zeigen. Nichts gegen Scheißdreck! Ich habe ein großes Herz für Scheißdreck! Wo soll ich meine Unterschrift hinsetzen?
Aber die sichtbare Ungerechtigkeit, die einem in Berlin (oder Hamburg oder Frankfurt oder Köln) ebenfalls auf Schritt und Tritt begegnet, kann ich nicht einfach mit einem Schulterzucken als Sozialfolklore abtun. Als Kolorit, über das ich den entsetzten Besuch aus der rückständigen Provinz lässig informiere, im Vorbeigehen und nur allzu gerne: „Das? Ach, die Leute wollen vermutlich in Zelten unter der Brücke wohnen, zentral und an der frischen Luft! Wo jibbet ditte denn sonst noch?“.
Schlecht geht es immer nur Menschen, die sich beim Schmieden ihres Glücks auf die Finger gehauen haben. Wie blöd muss man sein? Unsereins schreitet beherzt aus in die Zukunft, deren Türen sperrangelweit offen stehen.
Einmal war ich mit einer schlauen Schriftstellerin aus Berlin auf Lesereise auf einem Ausflugsdampfer von Bingen zur Loreley, also durchs Mittelrheintal. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück durch eine Landschaft, die spektakulärer nicht sein könnte: Fachwerk, Wälder, Türme mitten im Strom, Burgen. Irgendwer pfiff durch die Zähne und sagte anerkennend: „Schon schön hier!“, worauf die Intellektuelle nur einen ganz kurzen, aber umso verächtlicheren Blick aus dem Panoramafenster warf: „Hmnja, aber das ist doch nicht Deutschland!“.
Als altmodischer Mensch mache ich gerne die Gegenprobe. Wenn an der Promenade von Rüdesheim bunte Zeltdörfer errichtet wären, wenn die Kellner an Bord statt Sekt offen Crystal Meth anböten und Verzweifelte versuchten, unser Schiffchen schwimmend zu erreichen – wäre das dann ein Deutschland, auf das wir uns hätten einigen können?
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