25 Antworten von Aiwanger –
und gut ist’s?

Noch einmal nachsitzen: Nach 35 Jahren wurde Hubert Aiwanger erneut wegen des Nazi-Pamphlets in seiner Schultasche zum Chef gerufen. Damals musste er ein Referat halten, heute soll der bayrische Freie-Wähler-Chef einen Fragebogen ausfüllen

Aiwanger, in einer Tracht, blickt nach unten

Es ist Wahlkampf in Bayern. Statt Kutschen und Protonen steht die Vergangenheit Aiwangers im Mittelpunkt des Interesses Foto: Pia Bayer/dpa

Aus München Dominik Baur

Es ist Wahlkampf in Bayern, und fast könnte man meinen: Business as usual bei den Regierungsparteien. Die CSU-Pressestelle verschickt am Dienstagvormittag eine Einladung zu einer „Radl-Tour zum Radi-Essen“ mit Parteichef Markus Söder. Gut, den bayerischen Ministerpräsidenten mit vegetarischer Kost zu sehen ist etwas Besonderes, ansonsten ist es aber doch ein klassischer Söder-Wahlkampftermin. Kurz zuvor hat auch das bayerische Wirtschaftsministerium kommende Termine von Minister Hubert Aiwanger verschickt: Am Freitag etwa besucht er das Unternehmen Proton Motor Fuel Cell in Fürstenfeldbruck, am Samstag hält er eine Festrede beim Karpfhamer Fest und am Sonntag ein Grußwort bei der Historischen Reiter- und Kutschengala in Oberschleißheim.

Doch in Wirklichkeit interessieren sich am Dienstagvormittag in Bayern nicht viele für Radi und Protonen. Während die Terminankündigungen in die E-Mail-Postfächer der Journalisten flattern, warten diese gespannt auf den Ausgang der Krisensitzung in der Staatskanzlei, des ersten Aufeinandertreffens von Söder und Aiwanger seit Bekanntwerden der Flugblattaffäre.

In einer Sondersitzung des Koalitionsausschusses, die vor der regulären Kabinettssitzung anberaumt wurde, muss sich Aiwanger rechtfertigen: Was hat er mit dem Nazi-Pamphlet zu tun, das Ende der achtziger Jahre an seiner Schule und insbesondere auch in seiner Schultasche auftauchte? Wer war dessen Verfasser? Er selbst? Sein Bruder? Beide zusammen? Hat er es weiterverteilt? Dies wären mögliche Fragen, die man ihm stellen könnte. Was Hubert Aiwanger und sein Bruder Helmut in den vergangenen drei Tagen dazu zum Besten gegeben haben, hat den christsozialen Koalitionspartner offenbar weder davon überzeugt, dass der Wirtschaftsminister seinen Posten räumen muss, noch, dass er auf Dauer bleiben darf. Auch die Sondersitzung scheint keine Klarheit zu bringen.

Es ist kurz nach 12 Uhr, als dann schließlich Markus Söder im Prinz-Carl-Palais gleich neben der Staatskanzlei vor die Presse tritt. Allein. Hubert Aiwanger, der sich sonst so gern kritischen Fragen stellt, vor keiner Auseinandersetzung zurückscheut, ist nicht dabei. Und auch der für gewöhnlich recht redselige Ministerpräsident beschränkt sich heute auf das Nötigste. Nachfragen sind nicht gestattet, das kündigt Söders Sprecher gleich zu Beginn an.

Es sind zwei Kernbotschaften, die Söder in den folgenden sechs Minuten ganz offensichtlich rüberzubringen versucht. Zum einen: Er ist hier der Chef, der hart, aber besonnen agiert, der sich von einem widerspenstigen Aiwanger nicht auf der Nase herumtanzen lässt, sondern ihn wie weiland der Direktor des Burkhart-Gymnasiums in Mallersdorf-Pfaffenberg einbestellt und ihm aufzeigt, wo die roten Linien verlaufen. Zum anderen: Die Koalition ist nicht in Gefahr.

Zunächst wiederholt Söder in seinem abgelesenen Statement, was von dem Flugblatt zu halten ist, das seit Samstag nicht nur die Landespolitik beschäftigt: Ekelhaft, widerlich, übelster Nazijargon – das sind die Vokabeln, die der Ministerpräsident bemüht. Und ganz bestimmt kein Dumme-Jungen-Streich, da stecke eine „ganz andere Energie“ dahinter. Allein der Verdacht, es könne von Aiwanger stammen, beschädige das Ansehen Bayerns.

An ihm als Ministerpräsident sei es nun, verantwortungsvoll und vernünftig zu entscheiden – ohne „Vorverurteilung oder gar ein Übermaß“. Die auf anonyme Quellen gestützten Recherchen der Süddeutschen Zeitung (SZ) reichten für eine Bewertung des Sachverhalts aber nicht aus, so Söder. Aiwanger aktuell zu entlassen wäre „ein Übermaß“.

Es sei „wichtig, um diese Verdachtsmomente auszuräumen und jeden Verdacht zweifelsfrei zu zerstreuen, Gelegenheit zur Äußerung zu geben“, sagt Söder. Deshalb habe man Aiwanger heute gehört, ihn befragt. Um welche Verdachts­momente es in seinen Augen genau geht, verrät Söder nicht. Nur um die Frage der Urheberschaft des Pamphlets? Welcher Verdacht müsste sich bestätigen, dass sein Stellvertreter nicht mehr tragbar wäre? Dazu äußert sich der Regierungschef nicht. Nur dass die heutigen Aussagen Aiwangers nicht ausgereicht hätten, erzählt er.

Deshalb will Söder das Ganze nun schriftlich machen. 25 Fragen, kündigt er an, werde man Aiwanger übergeben, die dieser auch versprochen habe zu beantworten. Aiwanger habe sich auch bereit erklärt, „wenn noch vorhandene Schulakten da sind, die zu öffnen“. Er gebe aber auch zu bedenken, dass die Sache ­tatsächlich über 30 Jahre her sei und sich Aiwanger zumindest heute deutlich von dem ­Flugblatt distanziere, sagte Söder noch, fügte aber gleich hinzu, dass dies „kein Freispruch“ sei.

Dabei drängen sich zwei Fragenblöcke in der Angelegenheit auf. Der eine betrifft das Tun und Lassen eines 16-jährigen Gymnasiasten in der niederbayerischen Provinz – also das, worauf auch Söder in seinem Statement größtenteils abhebt. Wie relevant dieser Block ist, der beispielsweise die Frage enthält, ob Aiwanger das Flugblatt an andere Schüler weitergegeben hat, darüber gehen die Meinungen auseinander. SPD-Chef Florian von Brunn beispielsweise findet, wer ein solches Machwerk als Schüler mit sich herumgetragen hat, habe in der Regierung nichts verloren.

Der andere Fragenblock betrifft allerdings den heutigen Hubert Aiwanger, immerhin Minister und stellvertretender Ministerpräsident. Hier stellt sich die Frage, wes Geistes Kind er ist, dann doch noch einmal deutlich dringlicher. Und hier fällt beispielsweise die Aussage aus seinem schriftlichen Statement ins Auge, es sei weder damals noch heute seine Art, „andere Menschen zu verpfeifen“. In Aiwangers Augen mag dies ehrenhaft sein, doch es geht schließlich nicht um das Verpetzen eines Freundes, der bei einer Schulaufgabe geschummelt hat. In der letzten Konsequenz könnte die Aussage bedeuten, dass Aiwanger auch heute rechtsradikale Umtriebe in seinem politischen Umfeld für sich behalten könnte, kämen sie ihm zur Kenntnis. Die Vorstellung eines Ehrenkodex nach Art der Omertà in der bayerischen Politik schmerzt dann doch.

Auch die Bemerkung, ihm sei „mit der Polizei gedroht“ worden, wenn er den Sachverhalt nicht aufkläre. Das Einschalten der Polizei bei einer Hetzschrift, die Holocaust-Opfer verhöhnt, heute noch als Drohung zu empfinden lässt zumindest auf ein mangelndes Problembewusstsein und eigenartiges Rechtsverständnis schließen. Dasselbe gilt für die Formulierung, er sei auf das Alternativangebot, ein Referat zu halten, „unter Druck“ eingegangen. Eine Entschuldigung, ein Wort des Bedauerns? Fehlanzeige.

Und dann wäre da natürlich auch die Frage: Hat Aiwanger gelogen? Die Süddeutsche Zeitung behauptet, zumindest sie habe er angelogen. So habe er beispielsweise die Anfrage, ob er sich in der Schule für das Flugblatt habe verantworten müssen, als „Behauptung zu seiner Schulzeit“ zurückgewiesen. Am Samstag dann, als die SZ-Story veröffentlicht war, räumte er dagegen ein, zum Direktor einbestellt worden zu sein.

Die Opposition jedenfalls überzeugt Söders Aufklärungsstrategie noch nicht. SPD-Mann von Brunn etwa spricht von einer „schwachen Entscheidung eines schwachen Ministerpräsidenten“: Aiwanger habe zehn Tage Zeit gehabt, alle offenen Fragen zu klären. „Die Hängepartie vergrößert den Schaden für den Freistaat noch weiter. Das Mindeste wäre gewesen, dass Hubert Aiwanger sein Amt ruhen lassen muss.“ Und FDP-Fraktionschef Martin Hagen findet: „Die schwerwiegenden Vorwürfe gegen Hubert Aiwanger sind keine exklusive Sache zwischen CSU und Freien Wählern. Das betrifft ganz Bayern und darf nicht hinter verschlossenen Türen verhandelt werden.“ SPD, FDP und Grüne wollen nun eine Sondersitzung des Landtags einberufen.

Söders Statement am Dienstag ähnelt in einer Hinsicht der vorausgegangenen Aussage Aiwangers vor den Koalitionären, wie Söder sie dargestellt hat: Viele Fragen bleiben offen. Was genau wurde Aiwanger gefragt, was hat er geantwortet, welche Antworten fanden die CSU-Teilnehmer unbefriedigend? Je mehr Söder die Sache freilich im Vagen lässt, desto weniger muss er sich später festlegen lassen – etwa auf mögliche Konsequenzen für Aiwanger.

Mit dem schriftlichen Fragekatalog verschafft Söder sich – aber auch seinem Stellvertreter – erst mal eine Verschnaufpause nach den turbulenten letzten Tagen. Ein mögliches Kalkül: Bis Aiwanger mit den Antworten rüberrückt, könnten sich die Gemüter etwas abgekühlt haben, sodass sich leichter über die eine oder andere ausweichend beantwortete Frage hinweggehen lässt. Kein Wunder, dass Aiwanger keine Frist gesetzt wurde. Söder erklärte auf der Pressekonferenz lediglich, die Antworten sollten „rasch“ vorliegen.

Und dann? Dann werde man hoffentlich wieder vernünftig weiterarbeiten, sagt Söder. Die Zusammenarbeit mit den Freien Wählern habe sich bewährt, sei gut, und man wolle sie fortsetzen. „Es gibt auch keinen Anlass, etwas daran zu ändern.“ Und dann noch ein unübersehbarer Wink mit dem Zaunpfahl an den abwesenden Aiwanger: „Koalitionen hängen übrigens auch nicht an einer einzigen Person. Es geht mit oder ohne eine Person im Staatsamt ganz genauso.“