: Die Fahrradstadt, die gar keine ist
Eine Initiative startet in Göttingen gleich zwei Bürgerbegehren, um das Radfahren in der Stadt sicherer zu machen. Die Initiator:innen sind zuversichtlich, dass sie Erfolg haben
Von Reimar Paul
Als der Allgemeine Deutsche Fahrradclub (ADFC) Göttingen im Jahr 2017 zur fahrradfreundlichsten kleinen Großstadt Deutschlands kürte, schüttelten viele einheimische Radler:innen und Umweltaktivist:innen den Kopf. „Da war wohl von den Testern niemand vor Ort“, lautete der Tenor der Kritik. Im ADFC-Fahrradklima-Test hatte Göttingen damals in der Kategorie 100.000 bis 200.000 Einwohner Platz 1 belegt. Die Wahl sei vor allem aufgrund eines neuen Radschnellweges erfolgt, der den Göttinger Bahnhof mit dem Nordbereich der Universität verbindet, teilte der ADFC mit. In diesem Jahr schaffte es Göttingen im ADFC-Ranking mit ähnlicher Begründung erneut unter die ersten drei.
Zu denjenigen, die den Göttinger Spitzenplatz nicht so richtig nachvollziehen können, zählt die Klimaschutzgruppe „GöttingenZero“. Sie startet am heutigen Freitag eine Unterschriftensammlung für einen „Göttinger Radentscheid“. Darin werden Verbesserungen für den Fahrradverkehr auf den Göttinger Straßen gefordert, damit alle, besonders Kinder und ältere Menschen, sicher und selbstständig Fahrrad fahren könnten.
Eigentlich sind es sogar zwei Bürgerbegehren, die den Göttinger:innen zeitgleich zur Europawahl am 9. Juni 2024 zur Abstimmung vorgelegt werden sollen. Dafür müssen jeweils bis spätestens 1. März 2024 jeweils mindestens 6.813 Unterschriften gesammelt werden. Das erste Begehren umfasst allgemeine Maßnahmen, das zweite benennt konkrete Schritte für bestimmte Straßen. Unterschreiben dürfen alle Menschen mit EU-Staatsbürgerschaft ab 16 Jahren mit Erstwohnsitz in Göttingen.
Menschen müssten sich auf dem Fahrrad sicher fühlen, so die Initiator:innen. Das gehe heute nur, wenn Fahrräder und Kraftfahrtzeuge auf den Hauptstrecken räumlich getrennt würden. Das Fahren im Mischverkehr sei so unangenehm und gefährlich, dass ältere Menschen nicht das Fahrrad nähmen und Eltern ihren Kindern das Radfahren dort verböten.
Tatsächlich kommt es in Göttingen häufig zu folgenschweren Kollisionen zwischen Autos und Radler:innen, immer wieder auch mit tödlichem Ausgang für Letztgenannte – zuletzt traf es im Herbst 2022 einen 19-Jährigen. An mehreren Stellen der Stadt erinnern weiß angemalte Fahrräder an die bei Unfällen ums Leben gekommen Radler:innen. Eine Polizeistatistik für das Jahr 2017 weist 247 verletzte Radfahrer:innen allein im Stadtgebiet aus. Seit Anfang dieses Jahres gab es mindestens drei Schwerstverletzte.
Konkret fordert „GöttingenZero“ unter anderem sogenannte Protected Bike Lanes, also mechanische Barrieren zwischen Fahrrädern und Kfz an Hauptstraßen mit hoher Bedeutung für den Radverkehr. Solche Barrieren, die es in Göttingen bislang nicht gibt, verhinderten, dass Radfahrende von Kfz bedrängt werden könnten: „Wenn der Platz dafür nicht ausreicht, müssen diese Straßen für den Autoverkehr als Einbahnstraßen ausgewiesen werden.“
Während die Initiatoren von ähnlichen Radentscheiden in mehr als 30 Großstädten nach Unterschriftensammlungen mit Räten und Verwaltung – und mit unterschiedlichen Ergebnissen – verhandelt haben, setzt „GöttingenZero“ von Anfang an voll auf die Abstimmung an der Wahlurne. „Die Politik war bislang zu mutlos und unsere Verwaltung wirkt auf weiten Strecken ausgebremst“, sagt Jonas Luckhardt, einer der Aktivisten.
Zu deutlich habe die Kommunalpolitik bislang signalisiert, dass sie weiter an der erfolglosen Strategie des Mischverkehrs auf viel befahrenen Straßen festhalten wolle. So sei keine wirkliche Verbesserung der Radverkehrssituation in Sicht. „Wir glauben, dass die Bevölkerung schon weiter ist, und sind deshalb zuversichtlich, dass wir die vielen Unterschriften gesammelt bekommen und zur Europawahl im Juni 2024 den Radentscheid auch gewinnen werden.“
Unterstützung bekommt „GöttingenZero“ vom sogenannten Zukunftsforum der Stadt, einem Gremium aus 35 zufällig ausgelosten Bürger:innen aller politischen und unpolitischen Richtungen. Sie empfahlen in einem Gutachten für die nördliche Stadtausfahrt Weender Landstraße genau das einzurichten, was einer Protected Bike Lane entspricht. Eine ganze Fahrspur soll für den Fahrradverkehr bereitgestellt werden, eine weitere für den Bus und nur noch eine für das Auto.
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