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Eiserner Veteran

Der einstige Wimbledonsieger Andy Murray, 36, zeigt sich beim Rasenturnier in Bestform. Es grenzt an ein Wunder, dass er überhaupt noch spielen kann

Aus Wimbledon Jörg Allmeroth

Als Andy Murray vor sieben Jahren zum zweiten Mal den Wimbledon-Thron erklomm, saß die ungewöhnlichste Zuschauerin dieses Bravourstücks in einer Gefängniszelle in Teheran. Sie habe den Sieg von Murray 2016 am Fernseher „wie eine schöne Flucht empfunden“ und sich für „einige Stunden wie zu Hause gefühlt“, sagte die britisch-iranische Journalistin Nazanin Zaghari-Ratcliffe vor ein paar Monaten, als sie über ihre sechsjährige Haftzeit in dem Mullahstaat berichtete: „Es war in dieser Situation wirklich Ekstase, das miterleben zu können.“

Wer am Dienstag Murrays souveränen Erstrundensieg gegen Landsmann Ryan Peniston (6:3, 6:0, 6:1) genau verfolgte, auch abseits des Centre Court-Spielfelds, konnte auch Zagha­ri-Ratcliffe erspähen. Sie saß auf Vermittlung von Murray in der Royal Box, direkt hinter der künftigen Königsgemahlin Kate und dem achtmaligen Rasenchampion Roger Federer.

„Brillant“ sei es gewesen, die Journalistin bei seinem Sieg dabei gehabt zu haben, sagte Murray. „Ich wollte, dass sie ein Match von mir unter anderen Umständen sieht. Das war emotional sehr berührend für mich.“

Wen wundert es, dass dieser Sir Andrew Barron Murray mittlerweile einer der ganz wenigen Tennisstars und Weltklassesportler ist, hinter dem sich Fans, Kollegen und Kolleginnen und Experten einmütig versammeln können. Auf seine älteren Tage ist der 36-jährige Schotte nicht nur zur Ikone eines unermüdlichen Arbeitsethos geworden, nach mehreren Hüftoperationen und erfolgreichen Comeback-Anläufen zu einem Vorbild der Unverdrossenheit, sondern auch zum universellen Publikumsliebling, der fast immer für die richtigen Gesten und Denkanstöße steht.

„Er ist zu einem Phänomen im Tennis geworden“, sagt John McEnroe, der frühere Superstar, „und er ist immer noch ein verdammt guter Bursche da draußen auf dem Platz.“

Dass er zehn Jahre nach seinem „Schlag in die Unsterblichkeit“ (The Guardian), dem ersten Triumph in London SW 19, überhaupt noch unter der großen Profi-Meute ist, grenzt an ein kleines Wunder. 2019 schien die Karriere des schottischen Braveheart bereits wegen körperlicher Probleme beendet, in Australien gab es damals bereits einen tränenreichen Abschied und sentimentale Nachrufe von Weggefährten wie Roger Federer oder Rafael Nadal.

Doch gegen alle Erwartung, auch gegen seine eigene Skepsis, kämpfte sich der zweimalige Olympiasieger mit einem metallischen Hüftersatz wieder ins große Tennisgeschäft zurück. „Der alte Hund ist zurück. Irgendwie“, sagte Murray, als er vor zwei Jahren nach 1.448 Tagen Zwangspause wieder in Wimbledon aufschlug und sofort in seiner Paradedisziplin glänzte – mit zwei gewonnenen Fünf-Satz-Abnutzungsfights.

Murray ist längst Kult im Tour­circuit. Aber ganz besonders im Heiligtum Wimbledon, in dem er am 7.7.2013 die Titeldürre für die einheimischen Herren nach 77 Jahren schließlich beendete.

Es war auch die Krönung eines langen, langen Marsches des Jungen aus Dunblane, der in den ersten Jahren im All England Lawn Tennis Club oft Zielscheibe des Spotts und auch von Anfeindungen der eigenen Fans wurde.

Ein „Leichtmatrose Popeye ohne Spinat“ sei Murray, hieß es am Londoner Zeitungsboulevard gern über den Schotten, der sich mal in einer trockenen Replik auf die Frage, wem er bei der Fußball-WM die Daumen drücke, so geäußert hatte: „Jedem, der gegen England spielt.“

Murray hat sich aus den Untiefen der Rangliste wieder mit eiserner Disziplin nach oben gearbeitet, auf Position 40 ist er in Schlagdistanz zur engeren Weltspitze. „Er kann bei diesem Turnier noch vielen gefährlich werden“, sagt Beobachter Mats Wilander, „er hat seine ganze Energie auf Wimbledon konzentriert.“

Murray hat sich mit Disziplin nach oben gearbeitet, auf Position 40 ist er, in Schlagdistanz zur engeren Weltspitze

Vor dem Grand-Slam-Start war sich Murray auch nicht zu schade, wieder einmal auf die Challenger-Tour auszuweichen, um dort viele Matches bestreiten und Siege feiern zu können. Mit Erfolgen bei den Wettbewerben in Nottingham und Surbiton kam er nun selbstbewusst ins Theater der Träume und sparte sich in Runde eins ausnahmsweise mal Kräfte auf.

Anschließend widmete er sich auch dem Augenzeugen Roger Federer auf der Ehrentribüne. „Als du mir beim letzten Mal auf dem Centre Court zugeschaut hast, hast du 2012 Stan Wawrinka bei den Olympischen Spielen gegen mich angefeuert. Danke, dass du heute ein paar Mal für mich geklatscht hast“, rief Murray dem pensionierten Maestro zu. Es war ein seltsamer, sentimentaler Moment.

Ein ungewohntes Bild, ganz im Gegensatz zu Murrays Spielerbox. Dort saßen wie 2013, beim denkwürdigen Titelcoup, Mutter Judy Murray und der grimmige Coach Ivan Lendl Seite an Seite. Jener Lendl übrigens, der nie Wimbledon gewann. Bis er mit Murray Wimbledon gewann.

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