„Wir haben ein manifestes Demokratieproblem“

Laut Umfragen wollen zurzeit 18 Prozent der Bevölkerung die AfD wählen. Politikberater Johannes Hillje erklärt im Interview, was die rechtsextreme Partei stark macht – und wie man sie wieder schrumpfen könnte

Hauptsache dagegen: Von der AfD organisiert protestieren Rechte, Reichsbürger und Querdenker bei einer Veranstaltung von Olaf Scholz in Magdeburg Foto: Mark Mühlhaus/attenzione/Agentur Focus

Interview Gareth Joswig

wochentaz: Herr Hillje, bei einer Landratswahl in Sonneberg ist der AfD-Kandidat im ersten Wahlgang auf 46,7 Prozent gekommen und geht nun in die Stichwahl. Was würde ein AfD-Landrat bedeuten?

Johannes Hillje: Das wäre für die AfD in erster Linie ein symbolischer, weniger ein machtpolitischer Erfolg. Landräte haben als oberste Verwaltungsbeamte von Landkreisen nur begrenzte Gestaltungsmöglichkeiten. Ein Landratsamt würde die AfD aber weiter etablieren. Es wäre für den Landtagswahlkampf in Thüringen ein wichtiges Argument, dass sich AfD wählen lohnt. Da Landräte vor allem mit der Repräsentation des Landkreis nach außen betraut sind, könnte ein AfD-Landrat für den wirtschaftsstarken Landkreis Sonneberg aber zum Nachteil werden, da eine Abschottungspartei als Gefahr für offene Märkte wahrgenommen wird.

Sie haben ein Buch über die Kommunikation der AfD geschrieben. Wie viel Eigenanteil steckt im aktuellen Umfragehoch der rechtsextremen Partei?

Zumindest mehr als viele denken. Es wird zu leichtfertig behauptet, dass der Großteil der Menschen, die in Umfragen der AfD ihre Stimme geben, das allein aus Enttäuschung und Protest gegen die anderen Parteien tun würden. Der Trend über mehrere Jahre zeigt aber, dass etwa 10 dieser 18 Prozent das Stammklientel der AfD sind. Die sind auch für andere Parteien nicht mehr abzuwerben – die AfD hat mittlerweile die stabilste Basis. Während andere Parteien zunehmend mit Wechselwählern zu kämpfen haben, kann man bei der AfD sagen: Diese 10 Prozent sind treu.

Aber woher kommen die zusätzlichen 7 bis 9 Prozent?

Aus unterschiedlichen Quellen. Die wichtigste Strömung kommt aus dem Nichtwählerlager. Bei der letzten Bundestagswahl 2021 hat die AfD 800.000 Stimmen an das Nichtwählerlager verloren. Aus dieser Gruppe hat sie jetzt im Zuge eines neuen Verunsicherungskontextes viele wieder mobilisieren können. Und dann gibt es noch andere Wähler, die zur AfD gewandert sind, vor allem von Union, FDP und SPD.

Ist es bei dieser Gruppe reiner Protest, wie häufig behauptet wird?

Die demoskopische Unterscheidung zwischen Enttäuschung und Überzeugung ist politisch irreführend. Natürlich gibt es eine Protesthaltung und Unzufriedenheit mit den Parteien aus der linken und rechten Mitte – sonst würde es diese Wählerwanderung nicht geben. Aber für die AfD-Zugewandten ist Migration das allerwichtigste Thema. Bei der AfD ist der Protest gegen Migrationspolitik mit einer profilierten Position verbunden. Markenkern der AfD ist mittlerweile Null-Migration und Remigration.

Kurzum: Rechte wählen Rechte. Die AfD schwimmt in den Umfragen momentan oben, weil ihr Kern flüchtlingsfeindliche Politik ist.

Ja, und es gibt die zusätzliche Fehlwahrnehmung, dass die AfD öffentlich derzeit kaum sichtbar sei, also selbst keinen Anteil an ihrem Erfolg hätte. Das mag für etablierte Medien stimmen, aber die AfD hat ihre eigenen Massenmedien in den Sozialen Medien aufgebaut. Sie erreicht regelmäßig sechsstellige Reichweiten mit einzelnen Beiträgen und Videos. Sie erreicht Menschen über ihre eigene Mobilisierungsmaschine. Zuletzt vor allem mit den Themen Migration und Heizungen.

Auch wenn das Umfragehoch der AfD mehrere Gründe hat, kursierten zuletzt viele monokausale Erklärungen. Aus Teilen der Ampel war zu hören, die CDU erweitere den rechten Resonanzraum durchs Kippen ins Populistische und auch die FDP trage dazu bei. Viele in der Union behaupten dagegen: Allein Habecks Heizungsgesetz und die Ampel sind schuld. Helfen gegenseitige Schuldzuweisungen?

Das Prinzip Zeigefinger hilft nicht weiter – und ich bin entsetzt über die mangelnde Selbstkritik in der Debatte über den AfD-Anstieg. Wir haben es zum einen mit einem Verunsicherungsphänomen zu tun. Abstiegsängste und Sorgen im Zuge des Heizungsgesetzes, aber auch der Migrationspolitik. Aber es ist auch ein manifestes Demokratieproblem, wenn Menschen sich aus Unzufriedenheit mit den anderen Parteien für eine in ziemlich weiten Teilen rechtsextreme Anti-System-Partei entscheiden.

Gerade hat das Institut für Menschenrechte eine Analyse veröffentlicht, nach der die AfD eine klar rechtsextreme Partei ist, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung abschaffen will.

Es ist wirklich erstaunlich, wie synchron Normalisierung und Radikalisierung der AfD verlaufen. Je länger es diese Partei gibt, desto mehr Menschen halten sie für eine normale Partei.

Und was kann man nun dagegen tun?

Das ist die gemeinsame Aufgabe aller demokratischen Kräfte – es darf beim Demokratieschutz nicht um parteitaktische Geländegewinne gehen. Es sollte etwa zum Konsens von Demokraten gehören, dass man selbstkritisch mit dem Aufwind von Demokratiefeinden umgeht. Und nicht in der Erklärung von Ursachen die Erzählung der Demokratiefeinde legitimiert, wie Friedrich Merz es tut, wenn er die populistische Grundannahme vom Konflikt zwischen „normalen Bürgern“ und der „engstirnigen Meinungselite“ wiedergibt und eine sehr kreative Rechtsruckformel aufstellt: ARD plus Gendern sorge für eine starke AfD. Wer mit den Erzählungen der AfD ihnen beikommen will, ist auf dem falschen Weg.

Markus Söder hat im letzten Bayern-Wahlkampf auf Asylthemen von rechts gesetzt, am Ende war die AfD stark und die CSU schwach wie nie. Jetzt geriert er sich als Kämpfer gegen Wokeness. Wiederholt die Union ihre Fehler?

Söder hat behauptet, er hätte aus Fehlern im letzten Wahlkampf gelernt, wo er sich zum Asylthema einen Überbietungswettbewerb am rechten Rand geliefert hat. Und jetzt macht er den gleichen Fehler bei kulturellen und gesellschaftspolitischen Themen, indem er den sogenannten „Woke-Wahn“ als Bedrohungsszenario skizziert, von einer vermeintlichen „Gender-Pflicht“ spricht oder die Grünen wortwörtlich als „Feind“ bezeichnet. Es ist natürlich legitim, dass ein CSU-Wahlkämpfer die Grünen und manche Auswüchse linker Diskurse scharf kritisiert. Aber politische Konkurrenten sind in einer Demokratie Gegner und keine Feinde. Für die AfD sind demokratische Parteien Feinde, genauso wie sie die repräsentative Demokratie als Ganzes ablehnt. „Genderpflicht“ und „Woke-Wahn“ sind Strohmänner einer kulturellen Angsterzählung der AfD, die von einer vermeintlichen grün-autoritären Umerziehung fantasiert.

Wie funktioniert die Erzählung der AfD?

Die grundlegende Erzählung ist seit jeher, dass es eine kulturelle Bedrohung gebe. Die kam lange Zeit von außen durch Migranten. Jetzt kommt sie auch von innen, durch den Umbau der Gesellschaft zur Klimaneutralität – ein zentrales Projekt der Ampel und der Grünen. Der Mechanismus ist bei Migration und Klima derselbe: Die AfD nimmt ökonomische Ängste auf und verwandelt sie in eine kulturelle Gefahr, in der es nicht mehr allein um das Portemonnaie, sondern die Lebensweise und Identität von Menschen geht, die „asylgeflutet“ oder „ökodiktatorisch“ ausgetauscht werden sollen. Wer dann wie Markus Söder oder Hubert Aiwanger mit seinem Fleischpopulismus genau diese Erzählung aufgreift – auch wenn es nur in Stichworten passiert –, legitimiert damit das Szenario der vermeintlichen Ökodiktatur.

Gleichzeitig sägt die Ampel, wohlgemerkt unter Federführung der SPD und Mitwirkung der Grünen, an den Grundfesten des Asylrechts. Und die Union macht munter mit, indem Leute wie Jens Spahn die Genfer Konventionen, eine zentrale Lehre aus dem Zweiten Weltkrieg, in Talkshows in Frage stellen. Schaffen Ampel und Union es so, die AfD noch über 20 Prozent zu treiben?

Ich glaube, es gibt immer noch die trügerische Hoffnung, dass man mit der Übernahme von AfD-Positionen ihnen beikommen kann. Aber das ist ein Irrtum: Mainstreaming von AfD-Positionen führt zu Mainstreaming der AfD. Besonders frappierend ist es, wenn aus der Union von Michael Kretschmer, aber auch Jens Spahn, die Genfer Flüchtlingskonvention und das Grundrecht auf Asyl als Rechtsgrundlage infrage gestellt wird. Das war bislang ein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Man kann nicht einerseits sagen, dass die AfD außerhalb des demokratischen Verfassungsbogens steht, aber andererseits solche demokratiefeindlichen Positionen übernehmen. Das ist ein Widerspruch, den die Wähler merken. So wird die AfD indirekt normalisiert.

Johannes Hillje

Foto: privat

Der BeraterHillje, Jahrgang 1985, ist Kommunikationswissenschaftler und Politikberater. Außerdem hat er mehrere Sachbücher geschrieben.

Das BuchSein jüngstes Buch heißt: „Das ‚Wir‘ der AfD – Kommunikation und kollektive Identität im Rechtspopulismus“.

Was hilft dann gegen die AfD?

Machtpolitisch braucht es die Isolation. Allen Menschen muss klar sein, dass diese Partei außerhalb des demokratischen Konsens steht und daher nicht für eine Koalition mit demokratischen Parteien infrage kommt.

Die AfD war 2018 schon einmal in Umfragen auf einem ähnlichen Level wie jetzt. Kann sie darüber hinaus mobilisieren?

Ich will nicht ausschließen, dass die AfD in einer Umfrage auch mal über 20 Prozent kommt. Durch unterschiedliche Studien wie die Mitte-Studien der Friedrich-Ebert-Stiftung wissen wir, dass rechtspopulistische Einstellungen weiter verbreitet sind als im Umfeld der AfD. Demnach hat knapp ein Drittel der Bevölkerung zumindest zum Teil rechtspopulistische Einstellungen. Menschen, die zwar nicht komplett rechtspopulistisch ticken, können aber durch die Aktivierung von Verunsicherungsgefühlen dann doch zur AfD tendieren. Aber Umfragen sind natürlich keine Wahlen und wir können davon ausgehen, dass die AfD bei einer Bundestagswahl nicht auf 18 Prozent käme. Das heißt aber nicht, dass sie ihr Ergebnis von 2017 von 12 Prozent nicht irgendwann einmal übertreffen kann.

Die AfD hofft darauf, bei den anstehenden Landtagswahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen stärkste Kraft zu werden. Wie lässt sich das verhindern?

Der Wahlkampf wird sehr entscheidend sein. Es braucht deutliche Abgrenzung. Es ist enorm wichtig, dass im Wahlkampf nicht die Positionen der AfD von den demokratischen Parteien normalisiert und reproduziert werden. Eine Zusammenarbeit muss ausgeschlossen werden – auch eine Minderheitsregierung durch Tolerierung der AfD. Den potenziellen Wählern der AfD muss vermittelt werden, dass ihre Stimme bei dieser Partei bezüglich Regierungsbildung und Politikgestaltung unwirksam ist.