Durch Beton kucken

Seit Anfang Juni bietet das Project Space Festival jeden Abend des Monats ein Kunstevent an den wunderbar abseitigen Orten informeller Ausstellungen

Früher Autohaus, heute Projektraum. Im Spoiler in Moabit gibt es am 29. Juni eine Performance Foto: Joe Clark

Von Tom Mustroph

Mit Kunst kann man die Stadt neu entdecken. Das Project Space Festival, das seit nunmehr neun Jahren Projekträume in Berlin vorstellt, führt in diesem Jahr in insgesamt 30 teils bekanntere, teils überraschende und stets originelle Locations. Alte Fabrikgebäude sind darunter, wie die Fabrik am Flutgraben, in der das Festival am 1. Juni auch mit einer Präsentation des von ukrainischen Künst­le­r*in­nen und Pro­du­zen­t*in­nen gegründeten Cultural Workers Studio eröffnet wurde. Erfrischende Sommerbäder wie das im Humboldthain gehören aber auch dazu. Und es geht in Hinterhöfe, zu denen die Zugänge durchaus von urbanen Gärten überwachsen sein können, oder in Ladenräume, vor denen malerisch der Mohn blüht. Einen ganzen Monat kann man zwischen Siemensstadt und Tempelhof, Treptow und Schöneberg verwunschene Orte und spektakuläre Gebäude aufsuchen. Und Kunst gibt es dabei auch noch zu sehen.

Den wohl unmittelbarsten Zugang gewährt der Projektraum Tropez. Gut, eine Zugangsschwelle gibt es: Man muss eine Eintrittskarte fürs Sommerbad im Humboldthain erwerben, was in den heißen Sommermonaten allerdings eher einen Zusatznutzen als eine Last darstellt. Denn man kann sich erst ins kühle Nass werfen und danach auf dem Heiligen Stein von Tropez Platz nehmen – einem weißen Marmorblock, in den die Künstlerin Maria Loboda den Gesäßabdruck eines Wesens mit nach hinten zeigendem Schwanz eingemeißelt hat. Oder man kann sich vom wehenden Textilbanner des Fiktionalisierungsprojekts von Ghita Skali oder der halbtransparenten wallenden Woge der Installation „S~e~e~d“ von Christina Krys Huber inspirieren lassen. Die Ausstellung „Believe“ setzt sich seit dem 3. Juni mit Glauben, Aberglauben und Mystik auseinander. Neun Positionen sind über Liegewiese und Terrassen verteilt. Besondere Anforderungen gibt es an die Kunst in dieser speziellen Umgebung natürlich: „Die Sachen müssen wetterresistent sein, damit sie die drei Monate draußen auch durchhalten“, erzählt Ziemowit Nowak, Produktionsleiter von Tropez, im Gespräch mit der taz.

Regelrecht abgeschottet hingegen wirkt die Ausstellung „Possession“ von Onur Gözmen im Projektraum Scherben in der Leipziger Straße. Denn im Inneren des Raums steht man plötzlich vor einer brutalistischen Betonwand. Gözmen hat sie einem Schulgebäude in Ankara nachempfunden, das einst Moderne und Fortschritt ausdrücken sollte – und das verblüffend gut in das ebenfalls ziemlich brutalistische Ensemble der aus DDR-Zeiten stammenden Neubauten der Leipziger Straße passt. Durch einen Sehschlitz im Beton kann man auf ein Video schauen, dessen Protagonist ein Kind ist, das regelrechte Schlachten mit Objekten und Lebensmitteln auf einem Esstisch anstellt. Die Szenen sind dem Film „Possession“ des polnischen Regisseurs Andrzej Żuławski entnommen, der darin dysfunktionale Partnerschaften und rohe Morde im geteilten Berlin des Kalten Krieges darstellt.

Weiterer Höhepunkt des Festivals dürfte die Ausstellung „Studio Stadt. Peripherien elektronischer Musik“ im Projekt­raum Scharaun in Siemensstadt sein (Eröffnung 24. 6.). Der Projektraum befindet sich einem vom Berliner Architekten und Stadtplaner Hans Scharoun entworfenen Haus, in dem Scharoun auch selbst lebte. Die Ausstellung spürt in den Tonspuren elektronischer Musik Motiven der Automatisierung von Arbeits- und Lebenswelt nach und nimmt dabei gleichzeitig auch Bezug auf den Ort Siemensstadt: Das Siemens-Studio für elektronische Musik, das sich in München befand, war eines der ersten programmierbaren Tonstudios weltweit. Mit der Geschichte Berliner Siemens-Arbeiterinnen befasst sich in einem begleitenden Audiowalk die Künstlerin Ahu Dural. Durals Mutter arbeitete einst selbst bei Siemens.

Projekträume liefern die Infrastruktur, um neue Ästhetiken und Methoden auszuprobieren

Das Project Space Festival ist das Graswurzelfestival der Berliner Kunstszene schlechthin. Gerade Projekträume liefern die Infrastruktur, um neue Ästhetiken und Methoden auszuprobieren, von denen manche später auf dem Kunstmarkt erfolgreich sind und andere die großen interdisziplinären Festivals bestücken. In den letzten Jahren konnte sich die Berliner Szene einer immer ausdifferenzierter werdenden Förderung erfreuen. Das neue und krönende Element, die vierjährige Konzeptförderung, ist aber erst im kommenden Senatshaushalt fixiert.

Der neue Kultursenator Joe Chialo steht dabei in der Pflicht, die von seinem Vorgänger Klaus Lederer entworfenen Instrumente auch sinnvoll weiterzuentwickeln. „Ich kann nur sagen, dass die freie Projektraumszene unglaublich groß und vielfältig ist und gemeinsam einen wahnsinnigen Output hat. Das sollte man in Form einer anständigen Strukturförderung unterstützen“, fordert jedenfalls Heiko Pfreundt, gemeinsam mit Lisa Schorm Kurator des Festivals und mit ihr auch Betreiber des Kunstraums Kreuzberg Pavillon. Das Festival wird am 30. Juni mit einem experimentellen Filmprogramm im Neuköllner Projektraum Xanadu beendet

Project Space Festival 2023, tgl. bis 30. Juni: projectspacefestival.berlin