Kanonen statt Schwimmwesten

646 Menschen könnten bei dem Bootsunglück vor Pylos gestorben sein. Am Sonntag will der Konservative Mitsotakis durch Neuwahlen die absolute Mehrheit erreichen

Schiff "920" der griechischen Küstenwache transportieren Leichen

Das Schiff „920“ der griechischen Küstenwache begleitete den Fischkutter mehr als zwei Stunden lang vor der Havarie mit vielfacher Todesfolge Foto: Stelios Misinas/reuters

Aus Athen Ferry Batzoglou

Das verheerende Bootsunglück vor der griechischen Küste, vor Pylos, kommt für die Griechen zur Unzeit. Laut der griechischen Küstenwache werden schätzungsweise 568 Menschen vermisst. Das Gros der Flüchtlinge und Migranten – maßgeblich Frauen, Kinder und Alte – dürfte eingepfercht im Zwischendeck und Rumpf des etwa 30 Meter langen Fischkutters am vergangenen Mittwoch schnell auf dem Meeresgrund in einer Tiefe von an dieser Stelle mehr als 5.000 Metern gelandet sein. So könnten 646 Menschen bei dem verheerenden Bootsunglück gestorben sein.

Am kommenden Sonntag finden in Griechenland, das derzeit von einer Interimsregierung geführt wird, Parlamentswahlen statt. Der bis zum 25. Mai regierende Premier Kyriakos Mitsotakis, der nach dem Urnengang mit seiner konservativen Partei Nea Dimokratia (ND) weiter alleine in Athen regieren will, bezeichnete bei einer Wahlkampfrede in einer ND-Hochburg auf dem Peloponnes die Schlepper des gekenterten Fischkutters als „Dreckskerle“.

Unerwähnt blieb, dass die Regierung Mitsotakis auf eine demonstrativ restriktive Flüchtlings- und Migrationspolitik mit all ihren Facetten, mutmaßliche Pushbacks inklusive, und ihrem Augenmerk auf die See- und Festlandsgrenze zur Türkei im Osten des Landes setzt.

Mitsotakis und Co. sind sogar stolz auf ihre „strenge, aber gerechte“ Migrationspolitik, wie sie immer wieder hervorheben. Die meisten Griechen stimmen Mitsotakis’ Politik unverhohlen zu. Die Athener Opposition, namentlich linke Parteien wie Syriza oder Mera25, die das dubiose Vorgehen der Behörden in scharfer Form kritisiert, riskiert Beobachtern zufolge beim bevorstehenden Urnengang sogar Stimmenverluste.

Unterdessen hat die zuständige Staatsanwaltschaft in der südgriechischen Stadt Kalamata Ermittlungen in der Sache Bootsunglück aufgenommen. Auffällig ist dabei, dass Griechenlands oberster Staatsanwalt, Isidoros Dio­gakos, kurzerhand intervenierte. In einem Rundschreiben wies er die lokalen Staatsanwälte darauf hin, dass die Ermittlungen „unter strenger Geheimhaltung“ durchzuführen seien.

Ob Dogiakos, der von der Regierung Mitsotakis ins Amt gehievt wurde, darauf erpicht ist, dass die griechische Strafjustiz in der Causa Bootsunglück zeitnah Ergebnisse erzielt, die womöglich die griechischen Behörden in die Bredouille bringen könnten, bleibt abzuwarten. Im gewaltigen Athener Abhörskandal, in dem die Regierung Mitsotakis im Fadenkreuz ist, hat Dogiakos wohl eher nicht vor, sich mit Ruhm zu bekleckern. Seit fast einem Jahr sind keinerlei Fortschritte bei der juristischen Aufklärung bekannt. Ende Juni wird Dogiakos turnusgemäß in Pension gehen. Gewinnt Mitsotakis erwartungsgemäß die Wahlen am 25. Juni, wird er seinen Nachfolger bestimmen.

Der Sprecher der griechischen Küstenwache, Nikos Alexiou, der selbst Offizier ist, prahlte im griechischen Fernsehen damit, man habe bei der Katastrophe vor Pylos 104 Menschen gerettet. Kein Wort der Selbstkritik kam über seine Lippen. Ob Handelsschiffe, Kreuzfahrtschiffe, Kriegsschiffe oder Schmugglerboote mit Drogen, Waffen oder eben Flüchtlingen und Migranten: die Griechen kontrollieren unter massivem Einsatz von Personal und Material sowohl Tag und Nacht als auch flächendeckend die von ihr kontrollierte SAR-Zone, auch wenn es sich dort teilweise um internationale Gewässer handelt. Der Fischkutter war aus Ägypten kommend im ostlibyschen Tobruk in See gestochen. Sein Ziel: Italien.

Es ist kaum zu glauben, dass die Griechen erst am Dienstag um etwa 11 Uhr – und damit etwa 15 Stunden vor der Havarie – von dem Eindringen und der Fahrt des Fischkutters im für die Such- und Rettungsaktionen relevanten griechisch kontrollierten Seeraum im Mittelmeer, die „Search and Rescue Area Greece“ oder kurz „SAR Greece“, wussten. Zu jenem Zeitpunkt hätten die italienischen Behörden ihre griechischen Kollegen davon in Kenntnis gesetzt, so die offizielle Version der griechischen Behörden.

Die Griechen ließen den Fischkutter, kein Sprinter auf dem Meer, in der von ihr kontrollierten SAR-Zone mutmaßlich lange in Richtung Norden einfach weiterfahren, statt einzugreifen. Die offenkundige Strategie: Immerhin will das Migrantenboot die griechische SAR-Zone nur durchqueren. Das Wirken der Griechen kam einem unsichtbaren Durchwinken auf hoher See gleich. Getreu dem Motto: „Freie Fahrt! Auf Nimmerwiedersehen!“

Offenbar hatte Italien, das von der Postfaschistin und migrantenfeindlichen Giorgia Meloni regiert wird, etwas dagegen. Daher kam der Bescheid aus Rom nach einem Hinweis der italo-marokkanischen Sozialarbeiterin Nawal Soufi, einer Aktivistin für Menschenrechte, die seit Tagen Kontakt mit den Bootsinsassen des Fischkutters hatte.

Doch worauf setzte Griechenland fortan? Auf Verzögerung. Erst um 13.50 Uhr Ortszeit, fast drei Stunden nach der offiziellen Information aus Rom, sei ein Hubschrauber der griechischen Küstenwache abgehoben, um das Fischerboot – angeblich zum ersten Mal – ausfindig zu machen. Dies teilte das zuständige Athener Koordinationszentrum für die Suche und Rettung (LS-ELAKT) mit. Und der dafür angewiesene Helikopter startete auf einem Stützpunkt in Lesbos, ausgerechnet im äußersten Osten der Ostägäis, um ein Fischerboot mit Flüchtlingen und Migranten im äußersten Westen des von Griechenland kontrollierten Seeraums zu lokalisieren.

Von 15.35 Uhr Ortszeit an begleiteten Patrouillenboote der griechischen Küstenwache und eine Fregatte der griechischen Marine das Schiff. Bei der Fregatte handelt es sich um die „Kanaris F-464“ der griechischen Kriegsmarine. Das verfügbare Seenotrettungsboot „Aigaion Pelagos“, das als eines der besten Rettungsboote in Griechenland und in ganz Europa gilt und sogar über ein eigenes Krankenhaus verfügt, blieb hingegen im unweit von Pylos gelegenen Hafen der Stadt Gytheion, im Süden des Peloponnes. Es erfolgte offensichtlich zu keinem Zeitpunkt eine Anweisung von der Athener Koordinationsstelle LS-ELAKT, zum Fischkutter zu eilen, sehr zur Verwunderung von Experten wohlgemerkt.

Die Flüchtlinge und Migranten auf dem Fischkutter sahen somit ein griechisches Kriegsschiff mit Kanonen statt Rettungsboote. Das dürfte bei ohnehin gefährdeten Bootsinsassen eher Angst geschürt als Vertrauen geschaffen haben, eine unabdingbare Voraussetzung für jede Seenotrettung, wie Fachleute betonen. Ferner erhielten die Bootsinsassen von einem Frachtschiff Wasser und Nahrung statt Schwimmwesten. Keiner der Bootsinsassen hatte bis zuletzt Schwimmwesten. Auch das mutmaßlich ein klares Signal der Griechen an die Besatzung des Fischkutters: „Fahrt weiter nach Italien!“

Schließlich wies das Athener Koordinationszentrum LS-ELAKT nach der Lokalisierung des Fischkutters durch ihren von Lesbos aus gestarteten Hubschrauber ausgerechnet das 40 Meter lange Schiff „920“ der griechischen Küstenwache auf, den Fischkutter zu begleiten. Dabei hatte die „920“ nicht nur einen sehr langen Weg vor sich. Sie musste dem weit entfernten Fischkutter sogar hinterherfahren.

Denn das Schiff „920“ lag zum Zeitpunkt der Anweisung aus Athen viel weiter südlich im Hafen der westkretischen Stadt Chania. Das ist so, als ob man einen Polizeiwagen von München aus losschickt, um ein nördlich von Hannover befindliches schrottreifes Auto auf seiner Fahrt nach Hamburg zu erreichen.

Folgerichtig erreichte das Schiff „920“ der griechischen Küstenwache erst am Dienstag um 22.40 Uhr den Fischkutter, etwa zweieinhalb Stunden vor der Havarie mit vielfacher Todesfolge, so die offizielle Angabe. Es sei jedoch „auf Distanz“ geblieben und beobachtete den Fischkutter diskret.

Somit fand wieder keine, nicht einmal eine versuchte, Seenotrettung statt. Um 1.40 Uhr am Mittwochmorgen habe der Kapitän des Fischkutters einen Maschinenschaden gemeldet, so die offizielle Darstellung aus Athen. 20 Minuten später habe das Schiff plötzlich eine starke Schlagseite bekommen, sei gekentert und innerhalb weniger Minuten gesunken.

Stimmen zudem die jüngsten Aussagen von Geretteten, wonach das ominöse Schiff „920“ der griechischen Küstenwache versucht haben soll, mit einem Schlepptau den Fischkutter in die nahegelegenen italienischen oder maltesischen SAR-Zonen zu ziehen, dann wäre dies ein versuchter „Pushforward“, ein Vorwärtsdrängen von der SAR-Zone des EU-Landes Griechenland in diejenige eines anderen EU-Landes.

Athen dementiert. Es habe keinen Versuch eines Abschleppens des Migrantenbootes gegeben. Gebetsmühlenartig erklärt die griechische Küstenwache hingegen dazu, man habe dem Fischkutter wiederholt „Hilfe angeboten“. Die Hilfsangebote seien indessen abgelehnt worden. Daher habe man nicht eingegriffen.

Ein Unding, wie das UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) finden. In einer gemeinsamen Erklärung stellen sie fest: „Sowohl die Kapitäne als auch die Staaten sind verpflichtet, Menschen in Seenot zu helfen, unabhängig von ihrer Nationalität, ihrem Status oder den Umständen, unter denen sie aufgefunden werden, einschließlich derjenigen an Bord seeuntüchtiger Schiffe, und unabhängig von den Absichten der Menschen an Bord“. Es sei „die Pflicht, Menschen in Seenot unverzüglich zu retten, eine grundlegende Regel im internationalen Seerecht“.

Gerettet wurden nur 104 Menschen, alles Männer. Sie hatten Glück im Unglück. Sie fielen oder sprangen vom Außendeck ins Meer, als der heillos mit Flüchtlingen und Migranten überfüllte Fischkutter am frühen Mittwochmorgen um 2.04 Uhr Ortszeit kenterte und vollständig unterging.

Nicht einmal die im Meer geborgenen Leichen konnten die griechischen Behörden richtig zählen. Erst waren es 78, dann seien es 79, plötzlich wurde die Zahl wieder auf 78 korrigiert. „Wir haben uns verzählt“, so sinngemäß die lapidare Begründung.

Die meisten der Geretteten sind bereits mit Bussen von der südgriechischen Stadt Kalamata in das Flüchtlingslager in Malakasa nördlich von Athen gebracht worden. Etwa zwei Dutzend blieben vorerst noch in ärztlicher Behandlung im Krankenhaus von Kalamata. Unter den 104 Geretteten sind auch neun Ägypter, die von den griechischen Behörden verdächtigt werden, als Schlepper auf dem verrosteten Fischerboot fungiert zu haben. Einer habe gestanden, der Rest gibt an, unschuldig zu sein, berichteten griechische Medien. Alle neun werden am Montag dem Staatsanwalt in der südgriechischen Stadt Kalamata vorgeführt. Ihnen drohen hohe Haftstrafen. Die übrigen 95 Geretteten kommen in ein Asylverfahren in Griechenland.