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Special Olympics World Games„Sehen wir uns in Berlin?“

In Quedlinburg wird die Ankunft afrikanischer Sportler:innen mit Behinderung gefeiert. Es entstehen rührende Bilder - doch die haben Risse.

Sport mit Stimmung: Fußballtunier bei den Special Olympics Foto: Sowg2023

Quedlinburg taz | „Tansania macht noch Mittagsschlaf“, sagt Samantha Mantel zehn Minuten vor Beginn der Eröffnungsfeier in Quedlinburg. Erst in der Nacht zuvor sind einige Sportdelegationen aus Afrika in das nördliche Harzvorland gekommen. Daher sind alle noch müde. Die Quedlinburger Gleichstellungsbeauftragte Samantha Mantel wirkt trotz der Verspätung entspannt. Ghana sei ja schon da, und Kamerun und Madagaskar würden demnächst aus Halberstadt eintreffen.

Die vier afrikanischen Delega­tio­nen sind in ihren Host Towns angekommen, wo sie zu den Special Olympics World Games, die in dieser Woche in Berlin stattfinden, untergebracht sind. Dort bieten Stadtverwaltung und Vereine über mehrere Tage Führungen oder Kreativkurse für ihre Gäste an.

Insgesamt stellen bundesweit 216 Kommunen Unterkünfte für die Teams aus 190 Ländern. Sie bereiten sich vor und entspannen, bis es am Samstag nach Berlin geht: zur Eröffnungsfeier der Spiele für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung im Olympiastadion. Es ist das größte inklusive Sportereignis der Welt. Die etwa 7.000 Athleten und Athletinnen messen sich in 26 Disziplinen. Eine Woche lang.

Im Quedlinburger Hotel Schlossmühle wird die Ankunft der vier afrikanischen Delegationen in Deutschland gefeiert. Mit Bürgermeistern, Verbänden sowie mit einigen Athleten und Athletinnen aus der deutschen Delegation werden die Gäste empfangen.

Fürsorglicher Umgang

Es ist warm, sommerlich. Die Tische sind weiß bespannt, das Hotel reicht Gurkensticks an Kräuterquark, die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen wuseln den ganzen Abend herum. Eine kommt auf eine Gruppe Herumstehender zu und sagt: „Ich bin die Marion. Wenn ihr was braucht, dann fragt einfach Mama.“

Melinda Bukari ist begeistert vom herzlichen Empfang. Sie fühle sich seit der Ankunft am Flughafen sehr gut aufgehoben. „Die Menschen hier sind so tolerant“, sagt sie und schüttelt den Kopf dabei. Sie arbeite für das Bildungsministerium in Ghana und organisiere die Reise ihrer Delegation. Während sie spricht, kommt ein junger Mann immer wieder auf sie zu, heftet sich an ihren Arm. Er ist einer der ghanaischen Tischtennisspieler, jung und mit Glatze.

Mal fragt er nach Salzstangen und mal schaut er den fremden Journalisten mit großen Augen an. Bukari hält seine Hand und spricht in einer Sprache aus ihrer afrikanischen Heimat mit ihm. Sie tätschelt ihn und redet fast parallel auf Englisch weiter: „In Ghana gibt es kaum Unterstützung für Menschen mit geistiger Behinderung. Ich muss sehr viel Kraft in diese Arbeit stecken.“

Vorbild Antonio Rüdiger

Auch Hamza Mohammed ist über den Sport nach Quedlinburg gekommen. Er gehört zur Fußballmannschaft von Ghana, die sich aus Menschen mit und ohne Behinderung zusammensetzt. Diese inklusiv ausgetragenen Sportarten nennen sich Unified Sports. Mohammed ist 20, weißer Pulli, schwarze Jeans, große Sportuhr am Handgelenk. Er ist bereits das dritte Mal bei den Special Olympics dabei. „In Abu Dhabi 2019 sind wir Vierter geworden“, sagt er.

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Sein größtes Vorbild sei der deutsche Nationalspieler Antonio Rüdiger, der Verteidiger ist – wie Mohammed. „Ich liebe Fußball, ja, Fußball ist gut. Ich will Nationalspieler in Ghana werden, Nationalspieler werden“, sagt er. Er strahlt, während er auf der Gartencouch sitzend redet, mit den Händen gestikuliert und dabei gedanklich schon über das Feld stürmt.

Während eines Spiels dürfe der Geist nie bei jemand anderem als bei einem selbst sein, sagt Hamza Mohammed und tippt mit dem Zeigefinger an seinen Kopf. Er feile an einer Strategie, und zusammen mit seinem Team werde die dann umgesetzt. „Wenn ich vorher zu Gott bete, dann wird alles gut gehen, gut gehen“, ist er überzeugt. Er trainiere zweimal täglich: morgens allein und nachmittags im Team. Er sei gut vorbereitet, und die Frage, ob er ein guter Fußballer ist, bejaht er, ohne zu zögern.

Tanzende Bürgermeister

„Bitte alle reinkommen!“, ruft es unvermittelt aus einem großen Saal. Die anderen Delegationen sind mittlerweile eingetroffen und versammeln sich an runden Tischen. Besteck, Teller, Servietten liegen bereit. Sogar eine Speisekarte mit dem Aufdruck der Special Olympic World Games liegt da. Der Saal ist etwa so groß wie eine Sporthalle, ein Buffet ist aufgebaut, an der Bar wird für Getränke gesorgt.

Ein DJ-Pult lässt erahnen, was noch kommen wird. Sehr viele junge Menschen sind gekommen. Die Gruppen bleiben meist unter sich. Dort die Verwaltung der Stadt, hier die Leute aus Kamerun, etwas am Rande leuchten die blauen T-Shirts der Lebenshilfe, einer Organisation, die sich für die Teilhabe von Menschen mit Behinderung in allen gesellschaftlichen Bereichen starkmacht, darunter im Sport.

Es werden Reden gehalten, viele mit Dank bedacht und Geschenke verteilt. Vier Menschen übersetzen in vier Sprachen. Auch die Madegassen sind nicht mit leeren Händen gekommen: Sie gehen zu den Bürgermeistern und wickeln ihnen ein Stück Stoff, der Lamba­hoa­ny genannt wird, um die Hüften. Die drei anwesenden Stadtoberhäupter stehen dann da, mit Rock, mitten in dem Saal vor Hunderten Menschen – und beginnen zu tanzen.

Konrad Sutor engagiert sich im TSG Quedlinburg für Menschen mit geistiger Behinderung. Er sagt: „Ab Herbst wollen wir inklusiven Basketball anbieten.“ Das heißt Menschen mit und ohne Behinderung nehmen teil. Er erlebt die Inklusion als eine Bereicherung für den Sport und vermutet die Barrieren eher in den Köpfen der Menschen.

Eigentlich brauche es gar keine Veränderung der Strukturen, sondern nur die Bereitschaft, etwas Neues zu probieren, sagt er. Dann nimmt jemand das Mikrofon und erklärt, dass es in Deutschland üblich sei, zu Beginn eines Wettkampfs „Sport frei!“ zu sagen. Darauf ruft er: „Sport!“, die Gäste antworten: „frei!“

Laufen, werfen, tanzen

Am Tisch der Kameruner sitzt Lamina Ndognje. Sie redet kaum. Doch als das Wort „frei“ im Saal erschallt, schaut sie das erste Mal auf. Ihre Mundwinkel ziehen sich zu einem Lächeln nach oben, sie gluckst und mit leichter Verzögerung spricht sie der Menge nach. Ein Basecap sitzt auf ihrem Kopf, darunter schimmern rote Haare hervor. Sie trägt ein neongelbes Sport-Shirt, dazu eine kurze bunte Hose. Um den Hals trägt sie einen Schal von Germania Halberstadt. Lamina Ndognje ist 20 Jahre alt, sie tritt als Leichtathletin bei den Special Olympics an. Laufen und Werfen, das sind ihre Disziplinen.

Lamina Ndognje ist 20 Jahre alt, sie tritt als Leicht­athletin bei den Special Olympics an. Laufen und Werfen, das sind ihre Disziplinen. Und Tanzen

Und Tanzen. Ohne Schiedsrichter und Wertung, aber sehr olympisch. Als Shakiras Hit zur WM 2010 in Südafrika aus den Lautsprechern erklingt, kommt Leben in ihren Körper. „Waka, Waka“, schallt es durch den Saal. Lamina Ndognje setzt das Basecap ab, steht auf, hebt die Arme und betritt die Tanzfläche. Es scheint nur sie und die Musik zu geben.

Dieses Fest will Einigkeit zeigen und den Sport als Vehikel auf dem Weg dahin. Es stellt Deutschland als den Gastgeber dar, der für Toleranz steht, sich diese etwas kosten lässt und ohne Vorurteile vereint. Man könnte glatt vergessen, dass auch das deutsche System Menschen mit Behinderung ausgegrenzt, schlecht entlohnt, unsichtbar macht.

So wird etwa unter dem Hashtag #IhrBeutetUnsAus in sozialen Medien auf die Unterbezahlung in Werkstätten für Menschen mit Behinderung hierzulande aufmerksam gemacht. Es wäre längst an der Zeit für Reformen, für eine Diskussion über eine gerechte Entlohnung, Transparenz, die Frage der Mitbestimmung der Beschäftigten.

So bunt sich das Land an diesem Tag präsentiert hat, in Sachsen-Anhalt gibt es allzu viele Menschen, die sich rassistisch und diskriminierend verhalten. Jede Fünfte Stimme bei der Landtagswahl ging an die AfD. Eine Partei, in der ein Zusammenhang zwischen Behinderung, Inzest und Migration hergestellt wird, wie es der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbands, Ulrich Schneider, mal formuliert hat.

Vorbild Deutschland

Doch für die Gäste aus Afrika ist der Umgang mit Menschen mit Behinderung in Deutschland vorbildhaft. Sie zeigen Interesse am deutschen System, wollen mehr über die Werkstätten erfahren. Sie nehmen an Führungen teil und lassen sich genau erklären, wie das Gästebuch von einer Frau mit geistiger Behinderung gefertigt wurde. Denn in Afrika gebe es gar keine Arbeit, kaum Schulangebote und sehr wenig Akzeptanz, sagen die Coaches aus Kamerun und Ghana.

Noch deutlichere Worte findet Ali­ma. Sie lebt in Kamerun, ist aber kein Mitglied der Delegation. „Bei uns kann es passieren, dass Kinder mit Behinderung in den Fluss geworfen werden oder in die Mülltonne“, sagt sie. Ein solches Kind werde als eine „Strafe Gottes“ verstanden. In das Gästebuch schreibt sie, dass sie hier zum ersten Mal Wertschätzung für Menschen mit Behinderung erfahren habe. Sie hoffe auf Unterstützung aus Deutschland für den Kampf um Inklusion.

Dass ein Journalist sich nach ihrer Situation erkundigt, kann sie kaum begreifen: „Es gibt keine Berichterstattung in Kamerun, keiner interessiert sich für diese Menschen.“ Laut der Leiterin der Delegation gibt es etwa 3.000 Menschen mit Behinderung in ihrem Land – und nur eine Schule. Sie habe eine Petition gestartet für das Recht auf Schulbildung, sagt sie. Wenn 5.000 Unterschriften geleistet seien, könne das Papier im Parlament eingereicht werden.

Als Shakiras Stimme verklingt, kommt Lamina Ndognje zurück vom Tanzen. Sie hält ihre Puppe vor sich und posiert für ein Foto. Hinter ihr fährt der Bus mit der Delegation aus Ghana ab. Und mit ihnen auch der junge Tischtennisspieler und Melinda Bukari. Sie lässt das Fenster herunter und fragt: „Sehen wir uns in Berlin?“

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