: Freiheit für den Bach!
Kriegt man einen einbetonierten Bachlauf an die Oberfläche zurück? Münchner Bürger versuchen es
Von Jonas Waack
Hinter der Heinrich-Wieland-Straße verschwindet der Hachinger Bach in einem Rohr. Dort macht er eine scharfe Rechtskurve und fließt sechshundert Meter lang unter Autoreifen, Straßenbahnschienen, Asphalt und Kies weiter, quer durch den Münchner Stadtteil Berg am Laim. Schon 2014 hat der Münchner Stadtrat beschlossen, den Bach auszugraben, so wie es Bürgerversammlungen im Stadtteil immer wieder fordern. Aber der Hachinger Bach fließt immer noch unterirdisch. Seiner Freilegung im Weg stehen eine Kleingartenanlage, die katholische Kirche und eine Zahl: 171 Prozent.
„Der Bach ist wichtig“, sagt Heinz Unruh. „Er ist eine ganz entschiedene Aufwertung für die Gegend.“ Unruh war Verwaltungsmitarbeiter im bayerischen Innenministerium, seit 2008 ist er pensioniert. Er hat vorgeschlagen, mit dem Fahrrad die Strecke abzufahren, die der Hachinger Bach mal nehmen soll.
Unruh interessiert sich für den Bach, seit dieser 1998 zum ersten Mal in Bebauungsplänen auftauchte. „Ich hab dann mal gefragt in der Bürgerversammlung: Ja, was ist jetzt mit dem Bach“, erzählt er. „Von der Stadt gab’s keine Antwort.“ Seitdem schreibt Unruh Briefe an die Stadt und Zeitungen, geht zu Bürgerversammlungen und diskutiert mit Politiker*innen.
Hinter der Straße, unter der der Bach verschwindet, sind schon einige hundert Meter des künftigen Bachbetts fertig; noch sind sie trocken. Eine Wiese umgibt das Gelände, Menschen schieben Kinderwägen. Bis auf ein paar Büsche ist die Wiese karg, eine Picknickdecke ausbreiten will hier niemand. „Mit dem Bach wird sich hier ein richtiger Park entwickeln“, sagt Unruh, eine Hand auf den Fahrradsattel gestützt. „Wo die Leute spazieren, wo sich ihre Hunde und ihre Kinder rumtreiben können.“ Eine echter Mehrwert also für Berg am Laim, den Münchener Stadtteil, in dem die wenigsten Einwohner ihre Kredite bedienen können.
Doch beim Hachinger Bach geht es nicht nur um mehr Lebensqualität für Anwohner*innen. Vorgaben für den Umgang mit ihm macht auch die Nationale Wasserstrategie, die von der Bundesregierung im März 2023 beschlossen wurde. Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) will damit Dürren bekämpfen, es geht aber auch darum, unsere Lebensbedingungen besser an Hitze und Dürren anzupassen, die durch den Klimawandel wahrscheinlicher werden.
Stadtgewässer sind ein wichtiger Teil dieser Strategie. Sie schützen vor Überflutung bei starkem Regen. Außerdem bieten sie Lebensraum für einheimische Tier- und Pflanzenarten. „Kleine Gewässer beherbergen in Städten eine überraschende Zahl von Arten“, sagt Christian Wolter. Er arbeitet am Institut für Gewässerökologie Berlin und leitet dort eine Forschungsgruppe, die untersucht, wie man Flüsse und Bäche wieder weitgehend natürlich fließen lassen kann.
Und natürlich sind Stadtgewässer auch bedeutsam an Hitzetagen. Verschiedene Studien zeigen, dass Bäche ihre Umgebung um mehr als 1,5 Grad abkühlen können, durch die Verdunstung. Das ist gerade für Städte wichtig, weil diese sich durch den allgegenwärtigen Asphalt im Sommer stärker aufheizen als das Umland.
Doppelt schlecht also, wenn ein Bach wie in Berg am Laim unter der Erde fließt. Bereits 1933 wurde er ins Rohr verlegt. Viele weitere Bäche folgten, in München und bundesweit. Man wollte Baugrund gewinnen. In Zeiten des Klimawandels liegen die Prioritäten anders, zum Beispiel beim Hochwasserschutz: Dresden baggert seit 2022 bereits zwei Bäche wieder aus.
In Berg am Laim kämpft Heinz Unruh mittlerweile seit 25 Jahren für den Bach. Zwischendurch, erzählt er, habe er aufgegeben. „Da hab ich einem Stadtrat gesagt, ich schenk ihm alle meine Akten, und ich will mit dem Bach nichts mehr zu tun haben. Weil das sowieso nichts mehr wird, solang ich lebe.“
2020 hat Unruh dann doch wieder angefangen, sich für den Bach einzusetzen. Sechs Jahre nach dem Stadtratsbeschluss war noch immer nichts in Gang gekommen. „Da hab ich mich so geärgert, dass ich jetzt wieder auf die Bezirksversammlungen gehe.“ Die Anträge, die dort jährlich mit großer Mehrheit für den Bach angenommen werden, schreibt weiterhin Unruh. Er läuft nicht auf Klimademos mit, er ist kein Politiker und geht nicht zu BUND-Ortsgruppentreffen. Auf seine Weise ist er trotzdem Klimaschützer. „Ich bemühe mich hier nicht, weil ich irgendeine fixe Idee hab“, sagt er. „Erstens hab ich Zeit, zweitens bin ich pensioniert, drittens schreib ich gern böse Briefe.“
Auf dem Truderinger Feld, früher tatsächlich ein Acker, wird sichtbar, was den Renaturierungsprozess aufhält. Baukräne und Dixi-Klos stehen hier auf einem Kiesbett, es sollen Hochhäuser entstehen: In München herrscht Wohnungsnot, die Mieten sind hoch. Wer hier baut, verdient. Als der Stadtrat 2014 beschloss, den Bach freizulegen, kostete ein Quadratmeter München noch 1.436 Euro. 2021, als zuletzt offiziell Preise erfasst wurden, waren es 3.897 Euro. 171 Prozent mehr. Das ist die magische Zahl, die den Hachinger Bach ausbremst. Denn die Grundstücksbesitzer müssen der Stadt erlauben, den Bach auf ihrem Land freizulegen. Und dafür können sie mehr Geld verlangen, je länger sie warten. Spekulation auf mehr Gewinn führt so zum Stillstand für den Hachinger Bach.
Der soll künftig in seinem weiteren Verlauf an einem Bahndamm entlangfließen. Dazu müsste er vor dem Truderinger Feld eine Rechtskurve machen. Und das müsste er auf Land tun, das nicht der Stadt gehört, sondern der katholischen Kirche. Seit 2011 bemüht sich die Kommune darum, diese gemähte Wiese, umgeben von einem halben Dutzend Tannen, für den Bach nutzbar zu machen. Bisher ohne Erfolg.
Hinter der Baustelle auf dem Truderinger Feld, direkt vor dem Bahndamm, geht das Problem weiter. Und zwar in Form einer Eisenbahnersiedlung. Gelbe Wohnhäuser, Anfang des 20. Jahrhunderts gebaut, mit angeschlossenen Kleingärten, die sich zwischen Häuser und Bahndamm quetschen. Über einem der Gärten hängt schlapp eine „Königreich Bayern“-Fahne.
Die Bewohner der Siedlung sind sauer. Noch haben sie Alpenblick, doch bald schon werden die Hochhäuser auf dem Truderinger Feld ihnen das Panorama verstellen. „Das ist ein ganz typisches Beispiel hier“, sagt Unruh, in die Pedale tretend, „dass man das Baugebiet durchziehen will, bevor man über den Bach nachdenkt.“ Denn die Stadt brauche die Zustimmung der Kleingartenbesitzer*innen: Sie müssten dem Bach zuliebe ihre Gärten aufgeben. „Und dann sagen die: Ihr habt mit uns nicht gesprochen wegen diesen Hochhäusern – jetzt sprechen wir mit euch nicht.“
Die Anwohner*innen wollten den Bach nicht. Also musste die Stadt umplanen und andere, willigere Grundstückseigentümer am Bahndamm finden. 2022 einigte sie sich mit der Firma Bosch darauf, den Bach künftig an dessen Werk in Berg am Laim vorbeifließen zu lassen. Dort werden Autoteile hergestellt, noch bis Ende des Jahres. Dann schließt das Werk. „China ist billiger“, sagt Unruh.
Die Bahn will den Hachinger Bach ab dem Bosch-Werk am Bahndamm entlang weiter nach Osten fließen lassen. Dort soll er in einen anderen Bach münden, den Truderinger Hüllgraben.
Damit wäre der Hachinger Bach wieder über der Erde an große Gewässer wie die Isar angeschlossen. Eine gute Idee, denn Gewässerökologe Wolter zufolge ist das wichtig, damit Lebewesen den Bach auf natürliche Weise besiedeln können. Wie gut die Renaturierung gelingt, hänge aber auch davon ab, wie viele Flächen um den Bach herum versiegelt sind. „Viel Versiegelung führt dazu, dass es bei viel Regen Sturzfluten gibt. Und wenn es nicht regnet, kommt auch kein Wasser in den Bach“, sagt er. Gerade kleine Gewässer seien deswegen sehr trockenheitsempfindlich. In Berg am Laim soll der Hachinger Bach über weite Strecken hinweg durch Parks und Grünanlagen fließen. Für ihn sieht es also gut aus.
Noch taucht der Bach hinter den Schienen auf einer Wiese wieder auf, umgeben von steilen Hängen. Heinz Unruh rast mit seinem Fahrrad den Wiesenhang hinunter und stellt sein Rad dort ab, wo der Bach sein Rohr verlässt. Flache Steine ragen aus dem Wasser, zwei schmale Fische flitzen von Versteck zu Versteck. Heinz Unruh lehnt an einem rostigen Geländer, schwingt sich darauf und stützt sich mit den Zehenspitzen am Boden ab. Dann rutscht er wieder herunter, hievt sich erneut aufs Geländer, und rutscht kurz darauf wieder zurück.
„Nach diesem Vorhaben Bach werd ich nichts mehr machen“, sagt er. „Nicht weil ich faul bin, sondern weil es Sachen sind, die über Jahr und Tag nicht weitergehen.“ Links vom Bach steht ein graues Amazon-Lagerhaus, rechts donnern Züge nach Rosenheim und Salzburg. Ein Dalmatiner prescht in Richtung Wasser, planscht kurz herum und rennt zu seiner Besitzerin zurück.
Vor 1933 floss der Hachinger Bach direkt vor ihrer Haustür entlang. Sie muss heute 15 Minuten laufen.
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