Theresa Hannig
Über Morgen
: Wenn das Ministerium für Wahrheit nicht mehr in „1984“ Thema ist, sondern an meinem Esstisch

Foto: privat

Wir sitzen am Tisch, haben zum Essen eingeladen, der Abend verspricht ein Genuss zu werden, da sagt der Freund nebenbei den Satz, die Medien seien ja sowieso „gleichgeschaltet“. Zuerst halte ich es noch für ein Missverständnis, einen Scherz oder eine Übertreibung – nicht jedes Wort gleich auf die Goldwaage legen –, da kommt der nächste verbale Einschlag: „Das sagen sie alle im Wahrheitsministerium“. Ich unterbreche den Freund, frage ihn, was er meint, verlange eine Erklärung und begrabe ihn daraufhin unter Argumenten und Fakten.

Die Gesichter sind erhitzt, die Gemüter auch, Unverständnis statt Einvernehmlichkeit. Die gute Stimmung ist dahin. Wir sitzen schweigend am Tisch, wagen kaum einander in die Augen zu schauen. Kurze Zeit später verabschiedet sich der Freund, und in mir dämmert die Erkenntnis, alles falsch gemacht zu haben.

Unsere moderne Welt ist verdammt kompliziert. Wer kein Universalgenie ist, muss in vielen Bereichen des Lebens auf die Medien und die Auskunft von Ex­per­t*in­nen vertrauen, Meinung von Fakten trennen und Widersprüche aushalten. Und selbst dann bleiben viele Zusammenhänge oft noch unklar.

In einigen Menschen wächst dann Misstrauen; die Vermutung, dass „die da oben“ nicht die ganze Wahrheit erzählen und eine geheime Agenda verfolgen. Nur ein paar Klicks oder Google-Suchanfragen später haben diese Menschen Videos und Beiträge von Gleichgesinnten gefunden, die behaupten, die „wirklich wahre Wahrheit“ zu kennen. Die entspricht zwar nicht gängigen Informationsquellen und wissenschaftlichen Standards, ist dafür aber leicht zu verstehen ist und verleiht allem auf befriedigende Weise Sinn. Und am schlimmsten: Jede Kritik wird als Bestätigung der eigenen Wahrheit empfunden, da die Gesellschaft in den Augen der Verschwörungsgläubigen offensichtlich versucht, ihre Verbreitung zu unterdrücken.

Wer einmal in die Welt der Verschwörungsmythen abgetaucht ist, dem fällt es deshalb schwer, aus eigener Kraft wieder zurückzufinden. Oft wurden soziale Kontakte abgebrochen, Vorwürfe und Verletzungen haben die Gräben vertieft. Aber eine Rückkehr ist möglich – und sollte in jedem Fall begrüßt werden.

Denn wer die eine Verschwörung glaubt, ist auch anfälliger dafür, die nächste zu verbreiten. So verlieren immer mehr Menschen das Vertrauen in den Staat und seine Institutionen. Die Basis unserer Demokratie erodiert, wenn immer extremere und menschenfeindlichere Positionen an Boden gewinnen. Dabei fällt es De­mo­kra­tie­fein­d*in­nen und autoritären Staaten durch Social-Media-Nutzung und KI immer leichter, Verschwörungsnarrative auch bei uns zu verbreiten.

Deshalb müssen wir uns dringend damit auseinandersetzen, wie wir Verschwörungsgläubige wieder zurück in die Gesellschaft holen, wie wir Stigmatisierung vermeiden, Aussteigerprogramme fördern und präventive Maßnahmen ergreifen, damit Menschen resilient gegen Falschinformationen und Propaganda sind. Wie solche Programme funktionieren könnten, sollten Staat und Zivilgesellschaft so schnell wie möglich ausarbeiten.

Zuerst halte ich es noch für ein Missverständnis, für einen Scherz oder eine Übertreibung

Ich werde meinen Freund demnächst wieder zum Essen einladen. Vielleicht werden wir über Politik sprechen, vielleicht werden wir das Thema vermeiden. Auf jeden Fall will ich dafür kämpfen, dass die Verschwörungserzählungen keine Macht über unsere Freundschaft erhalten.

Theresa Hannig, 38, ist Science-Fiction-Autorin, Politikwissenschaftlerin, Grünen-Stadträtin und ehemalige Softwareentwicklerin.