piwik no script img

„Mit unklarer Identität ins Leben“

Wenn Geflüchtete nicht klar nachweisen können, wer sie sind, erhalten ihre Kinder teils keine Geburtsurkunde. Ob Personen in dieser prekären Situation landen, hänge von einzelnen Stan­des­be­am­t*in­nen ab, kritisiert die Berliner Migrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial

Schwerer Start: Wessen Identität ungeklärt ist, vererbt diesen Status manchmal ungewollt an seine Kinder Foto: Marcus Brandt/dpa

Interview Dinah Riese

taz: Frau Niewiedzial, mit Ausstellen der Geburtsurkunde wird es richtig amtlich: Ein Mensch wurde geboren. Laut UN-Kinderrechtskonvention hat jedes Kind das Recht darauf, nach der Geburt registriert zu werden. Das klingt doch ziemlich klar geregelt, oder?

Katarina Niewiedzial: Das sollte man denken. Leider hören wir aus vielen unserer Berliner Beratungsstellen, dass Menschen frustriert sind, weil sie für ihr Kind eben doch keine Geburtsurkunde bekommen. Das passiert, wenn die Identität oder der Personenstand eines Elternteils nicht vollständig nachgewiesen ist – in den meisten Fällen sind das Geflüchtete. Damit ist dann auch die Identität des Kindes nicht vollständig geklärt. Und das bringt ganz konkrete Nachteile für dieses Kind mit sich.

Deutschland hat die Kinderrechtskonvention ratifiziert. Verstößt es also dagegen?

Nein, auf rechtlicher Ebene nicht. Das Kind bekommt statt einer Geburtsurkunde einen Auszug aus dem Geburtenregister, meist mit einem einschränkenden Zusatz. Dieses Dokument ist der Geburtsurkunde formal gleichgestellt. Ein Problem ist, dass viele Menschen in den entsprechenden Institutionen das nicht wissen. Wir hören zum Beispiel, dass Kitas den Registerauszug nicht als ausreichend akzeptieren, oder dass Eltern erst mal lange und viel erklären müssen, wenn sie damit Eltern- oder Kindergeld beantragen wollen. Dabei haben sie natürlich Anrecht darauf. Und wirklich problematisch wird es für die Kinder, wenn sie älter werden.

Warum?

Mit einer Geburtsurkunde kann man seine Identität nachweisen. Deswegen sind die Ansprüche an ihre Ausstellung auch so hoch. Man kann zum Beispiel nur heiraten oder sich einbürgern lassen, wenn zweifelsfrei klar ist, wer man ist. Wenn ein Kind nun aber keine Geburtsurkunde hat, dann kann es sich unter Umständen später eben nicht einbürgern lassen und auch keine Ehe schließen. Diese Kinder können ihren eigenen Kindern keine eindeutige Identität geben, sodass diese wiederum mit ungeklärter Identität ins Leben starten. Das heißt, man trägt diesen prekären Status der Eltern ganz lange mit sich. Wir machen Kinder für etwas verantwortlich, für das sie gar nichts können. Und diese Benachteiligung ist in der Tat schwierig im Sinne der Kinderrechtskonvention.

Das Kind hat nicht nur ein Recht auf Registrierung, sondern auch darauf, dass dies „unverzüglich“ nach der Geburt geschieht. Klappt denn wenigstens das?

Auch da sehen wir Probleme. Das erste Ziel ist ja immer eine richtige, vollständige Geburtsurkunde. Standesbeamte können aber nur beurkunden, wovon sie überzeugt sind. Eine einmal ausgestellte Geburtsurkunde oder einen Registerauszug wieder zu ändern, ist noch langwieriger als die Ausstellung selbst, da ein Gerichtsbeschluss erforderlich ist. Das heißt, oft stellt das Standesamt die Beurkundung zurück und verlangt von den Eltern erst einmal, die notwendigen Dokumente aus dem Herkunftsland herbeizuschaffen. Das dauert aber oft lange oder ist unmöglich, zum Beispiel, weil beim Betreten der Botschaft des Herkunftslandes Verfolgung droht oder eine Reise ins Herkunftsland ausgeschlossen ist. Wenn das Herkunftsland ein unsicheres Urkundswesen hat, werden die Urkunden von dort angezweifelt und sie müssen von Vertrauensanwälten der deutschen Botschaft für viel Geld überprüft werden. Nicht selten landet das Ganze vor Gericht. Wir kennen Fälle, bei denen hat das Gerichtsverfahren zwei Jahre gedauert. Und in dieser ganzen Zeit hat das Kind keine vollständigen Papiere.

Mit vollständigen Papieren gibt es eine Geburtsurkunde, ohne nur den Registerauszug. Das klingt doch eigentlich recht simpel.

Das ist es aber nicht. Es passiert, dass jemand bei der Ausländerbehörde einen Aufenthaltstitel bekommt, weil der Zuständige dort einen anderen Identitätsnachweis für die Erteilung des Aufenthaltstitels akzeptiert – dieselbe Person aber beim Standesamt keine Geburtsurkunde für ihr Kind bekommt.

Wie kann das sein?

Die Standesbeamten sind nicht an das Ergebnis der Identitätsprüfung einer anderen Behörde wie der Ausländerbehörde oder dem Bamf gebunden. Sie sind nicht mal an das Prüfergebnis anderer Standesbeamten gebunden. Das kann sogar zu unterschiedlichen Entscheidungen in ein und demselben Standesamt in Bezug auf ein und dieselbe Familie führen.

Wie muss ich mir das vorstellen?

Wir kennen einen aktuellen Fall, in dem ein Mann aus Tschetschenien hier nach der Genfer Flüchtlingskonvention anerkannt ist und einen Blauen Pass hat, einen Reiseausweis für Geflüchtete. Er ist verheiratet und hat mehrere Kinder. Die ersten beiden haben ohne Probleme eine Geburtsurkunde bekommen, das dritte sogar die deutsche Staatsbürgerschaft, weil die Eltern schon lange genug in Deutschland waren. Das vierte Kind hat aber keine Geburtsurkunde bekommen, sondern nur die Ersatzbescheinigung – weil dem Standesbeamten der Blaue Pass nicht gereicht hat. Er wollte die Geburtsurkunde des Vaters, die dieser nicht beschaffen konnte.

Das ist doch absurd.

Ja. Das eine Kind bekommt bei der Geburt automatisch die deutsche Staatsbürgerschaft, sein jüngeres Geschwisterkind aber erhält keine Geburtsurkunde und dadurch auch die deutsche Staatsangehörigkeit, die es qua Geburt erworben hat, nicht zugesprochen. Gleiche Dokumente müssen aber doch zum gleichen Ergebnis führen.

Wie viele Menschen in Deutschland sind betroffen?

Foto: Jonas Holthaus

Katarina Niewiedzial, 45 Jahre alt, ist seit 2019 die Beauftragte des Berliner Senats für Integration und Migration.

Das ist leider völlig unklar. Wir wissen, dass es bundesweit immer wieder Probleme gibt – aber die Fälle werden nicht systematisch erfasst. Deswegen wäre meine Forderung eine Änderung des Personenstandsgesetzes: Die Standesämter müssten verpflichtet werden, jede unvollständige Registrierung zu listen. Nur so können wir überhaupt einen Überblick bekommen und dann entsprechende Maßnahmen ergreifen.

Wäre das Problem nicht ganz einfach zu lösen: Geburtsurkunden für alle?

Ich finde schon richtig, dass wir unsere hohen Standards im Urkundenwesen beibehalten. Wichtig wäre aber zum einen eine Härtefalllösung: Hier geborene Kinder sollten spätestens, wenn sie ein gewisses Alter erreichen, eingebürgert werden, damit sie auch mit unvollständiger Geburtsurkunde eine vollständige Identität erhalten. Und wir müssen das Problem thematisieren, gerade auch bei denen, die damit im Alltag zu tun haben: in den Beratungsstellen, aber natürlich auch in den Standesämtern und anderen Verwaltungen, die von den Betroffenen die Geburtsurkunde verlangen. Wir haben dafür in Berlin eine umfangreiche Handreichung erarbeitet, die ich auch unter den Integrationsbeauftragten der anderen Bundesländer bewerben werde.

Was steht in der Handreichung?

Es geht darum, die komplexe Rechtslage klarzumachen, Verständnis für die Herangehensweise der Standesämter zu erzeugen, aber auch, den Standesbeamten ins Gewissen zu reden: Sie haben es hier mit sehr komplexen familiären Situationen zu tun, und sie haben Spielräume bei der Würdigung der Unterlagen. Wir wollen sie ermuntern, wohlwollend zu entscheiden und im Zweifel mit den Familien gemeinsam nach Lösungen zu suchen. Wenn die Geburtsurkunde der Eltern oder die Scheidungsurkunde zum Nachweis des Personenstandes nicht zu beschaffen ist, welches Dokument könnte man stattdessen vorweisen? Schulzeugnisse der Eltern, Taufbescheinigungen, oder Fotos von der Scheidung der Mutter im Herkunftsland? Zeugenaussagen, vielleicht dazu noch eine eidesstattliche Versicherung? Rechtlich ist vieles möglich. Im Sinne des Kindeswohls sollte das Recht flexibler angewandt werden, mit dem klaren Ziel, über eine Gesamtwürdigung eine Geburtsurkunde auszustellen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen