: FragileGerechtigkeit
Seit dem großangelegten Gefangenenaustausch im Herbst 2022 wird hinter den Kulissen weiterverhandelt
Von Gemma Teres Arilla
Was Kriegsverbrechen angeht, sind bis jetzt in der Ukraine mehr als 40.000 Strafverfahren von Strafvollzugsbehörden eingeleitet und bereits mehrere Fälle vor ukrainische Gerichte gebracht worden. Das berichtete der ukrainische Justizminister Denys Maljuska im Gespräch mit der taz im vergangenen Dezember. „Es ist allerdings schwer bis fast unmöglich, Urteile zu vollstrecken, weil die Ukraine russische Kriegsgefangene stets gegen ukrainische Soldaten, unsere Helden, austauscht“, sagte Maljuska. Seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine am 24. Februar 2022 wurde und wird zwischen Kyjiw und Moskau in zwei Bereichen unter Vermittlung der Vereinten Nationen (UNO) und der Türkei verhandelt: wegen des Schwarz-Meer-Getreideabkommens und zum Thema Gefangenenaustausch. Dass Kriegsgefangene ausgetauscht werden – diese Tatsache verhindert eben zum Teil die Vollstreckung jeglicher gefällter Urteile.
Im vergangenen September, kurz nach der vom russischen Präsidenten Wladimir Putin angekündigten Teilmobilmachung, fand ein großer Gefangenenaustausch statt. Es handelte sich um ukrainische Kriegsgefangene, die in der südukrainischen, von russischen Streitkräften besetzten und symbolhaften Hafenstadt Mariupol gekämpft hatten und als Verteidiger der Fabrik Asowstal gefeiert wurden. Sie erzählten von Missbrauch und Folter. Wäre es nicht zum Gefangenenaustausch gekommen, hätte Moskau sie vor Gericht verurteilen lassen. Das geschah zum Beispiel jetzt im März, als drei ukrainische Kriegsgefangene, darunter der Menschenrechtsverteidiger Maxim Butkewitsch, von „Obersten Gerichten“ in den von Russland besetzten Regionen Luhansk und Donezk wegen Kriegsverbrechen „schuldig gesprochen“ und zu langen Haftstrafen verurteilt wurden.
Trotzdem: Seit dem großangelegten Gefangenenaustausch im September 2022, der von vielen Experten als eine Art „Wendepunkt“ beschrieben wird, wird hinter den Kulissen weiterverhandelt. Zusammen mit der Türkei schalteten sich auch die Vereinigten Arabischen Emirate ein. Zitiert von der Agentur ukrinform.ua, sprach der ukrainische Menschenrechtsbeauftragte Dmytro Lubinets jüngst von 2.105 Menschen, die seit Februar 2022 aus russischer Gefangenschaft befreit wurden. Laut der Plattform slovoidilo.ua sind seit März 2022 wohl 39-mal erfolgreich zwischen Russland und der Ukraine Gefangene ausgetauscht worden.
Diese Aktionen werden nicht immer sofort öffentlich gemacht – wie die letzten gelungenen Mitte April zum orthodoxen Osterfest, als 100 gegen 100 Soldaten ausgetauscht wurden, oder im Februar, als ebenfalls 100 gegen 100 Soldaten sowie der erste stellvertretende Bürgermeister von Enerhodar getauscht wurden. In Enerhodar liegt das größte europäische Atomkraftwerk Saporischschja, das seit März 2022 von Russland besetzt wird.
Sowohl die Ukraine als auch die Russische Föderation sind Vertragsparteien der Dritten Genfer Konvention, in der die Anforderungen zur Behandlung von Kriegsgefangenen festgeschrieben sind. Im November 2022 führte die UN-Menschenrechtsbeobachtungsmission in der Ukraine (HRMMU) je 159 Interviews mit Kriegsgefangenen, die von den russischen Streitkräften festgenommen worden waren, und 175 Interviews mit Kriegsgefangenen der ukrainischen Streitkräfte. Die Organisation äußerte sich besorgt über verschiedene Formen von Missbrauch auf beiden Seiten. Matilda Bogner, Leiterin der Mission, betonte jedoch, dass die Ukraine den Zugang zu russischen Kriegsgefangenen in den Inhaftierungslagern gewährt hatte, Russland jedoch die Zusammenarbeit mit der HRMMU blockiere. Deshalb konnten diese Interviews erst nach Freilassung der ukrainischen Gefangenen geführt werden – und nicht vor Ort in den russischen Lagern.
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