: Begegnung mit Gespenstern
Künstlerische Praktiken der Stadterforschung: Das „Drift!“-Festival widmet sich der Psychogeografie und legt einen Fokus auf die Beziehung zwischen Berlin und Kyjiw
Von Robert Mießner
taz: Frau Lubkowitz, Herr Slaski, umreißen Sie doch bitte den schillernden Begriff Psychogeografie. Worum geht es da?
Anneke Lubkowitz: Psychogeografie umschreibt künstlerische Praktiken der Stadterforschung. Das Konzept stammt von den Situationisten und Lettristen, also aus dem Paris der 50er Jahre, wurde dann aber vielgestaltig von Künstler:innen und Wissenschaftler:innen umgedeutet und weiterentwickelt.
Lesende werden vielleicht mit dem Namen Guy Debord vertraut sein, weniger mit Ivan Chtcheglov, einem anderen Mitbegründer der Psychogeografie. Der war ukrainischer Abstammung, Sie haben Ihrem Festival die Klammer „Berlin-Kyjiw“ gegeben.
Lubkowitz: Chtcheglov, oder Gilles Ivain, wie er sich in Paris nannte, war den Surrealisten näher verbunden als andere der Lettristen. Von ihm habe ich in meine Anthologie den schönen Text „Formel für einen neuen Urbanismus“ aufgenommen. Er kommt dort auf die Poesie der Straßennamen zu sprechen, denkt sich fiktive, witzige Namen aus und kontrastiert Dinge, die eigentlich nicht zusammenpassen, wie das im Surrealismus typischerweise gemacht wurde. Der Text ist ungleich poetischer als vieles, was Guy Debord geschrieben hat. Bei Chtcheglov geht es um Übersinnliches, um die Gespenster, die einem in der Stadt begegnen.
Jacek Slaski: In Berlin sind wir mit Leuten wie Franz Hessel und Walter Benjamin bei wesentlichen Impulsen für die Psychogeografie. Mir ist aber sehr wichtig, dass die Geschichte des Drift-Festivals bereits ein Jahr vor dem Ausbruch des Ukrainekrieges mit einem echten psychogeografischen Zufall beginnt. Ich lief in der georgischen Hauptstadt Tiflis herum, war durch Annekes Buch infiziert und interessiert und sah dort auf meiner Drift, meiner „Dérive“, wie die Situationisten ihr Umherschweifen ohne wirkliches Ziel in der Stadt nennen, ein handgemaltes Plakat, auf dem „Psychogeographical Reading“ stand. Ich landete in der kleinen Bar, in der die Veranstaltung bereits stattgefunden hatte, lernte dort aber die Kyjiwer Psychogeografin Julia Kulish kennen, ohne das in diesem Moment bereits von ihr zu wissen. So kamen die Dinge ins Rollen.
Als Ort haben Sie sich das Kunstquartier Bethanien in Kreuzberg ausgesucht. Warum?
Slaski: Weil es ein aufgeladener Ort ist. Das Bethanien ist ein Ort, der mit der Westberliner linken Geschichte, Stichwort Ton Steine Scherben, viel zu tun hat, aber viel weiter, bis in das Kaiserreich zurückgreift. Es war bis 1970 ein Krankenhaus, in ihm wurden Opfer beider Weltkriege versorgt. Leiter Stéphane Bauer war sofort angetan und hat unserem Festival gerne die Türen geöffnet. Dann ist das Bethanien auch ein Ort, von dem aus sich mehrere Programmpunkte erreichen lassen: Wir veranstalten nicht nur Vorträge und Gespräche, zeigen Filme und Klanginstallationen, sondern unternehmen auch Walks, also Exkursionen und Erkundungen. Das Bethanien ist ein passender zentraler Ausgangspunkt nach Mitte, nach Friedrichshain und Kreuzberg und liegt nahe an der ehemaligen Mauer.
Gab es so etwas wie einen Leitgedanken beim Programm?
Lubkowitz: Ich möchte da auf eine der Figuren der Psychogeogrfhie verweisen, den Flaneur. Der ist im klassischen Sinne weiß, männlich und heterosexuell. Und bürgerlich ist er noch dazu. Uns war es wichtig, diese Einseitigkeit aufzubrechen. Einmal, indem wir in verschiedene Städte schauen: Berlin, Kyjiw, London und Paris; zum andern dadurch, dass wir sehr unterschiedliche Leute einladen: Da sind zum Beispiel Özlem Dündar und Nadire Biskin, beides Autorinnen des Bandes „Flexen. Flâneusen* schreiben Städte“, die eine feministische Sichtweise auf das Thema haben und Dinge zu Tage bringen, die sonst verborgen bleiben. Das ist sozusagen die gegenwärtigste Gegenwartsliteratur. Dann freue ich mich auf meinen Mit-Keynote-Speaker Uwe Schütte, der zu W.G. Sebald sprechen wird, dessen Beitrag zur Psychogeografie in Deutschland weniger bekannt ist.
Stichwort Stadt und Psyche. Ein gängiger Topos ist der von der Stadt, die krank macht. Spielt das in das Festival mit hinein?
Slaski: Wir haben mit dem Wissenschaftler Patrick Bieler einen Programmpunkt, der sich urbanen Stressfaktoren und Mental-Health-Thematiken widmet. Es gibt mehrere Beiträge zur Gentrifizierung, das geht zurück bis zu Marc Weisers Film über die Räumung der Mainzer Straße am Ende des Ostberliner Hausbesetzerjahres 1990. Dann haben wir Roberto Ohrt, den großen Kenner der Situationisten, der uns anfangs sagte, dass mit der derzeitigen Stadtentwicklung, der Teuerung und Glättung, Psychogeografie gar nicht mehr möglich ist.
Jacek Slaski, 1976 in Danzig geboren, lebt seit 1985 in Berlin und arbeitet als Redakteur bei „tipBerlin“ und ist Herausgeber von „Gespräche mit Genialen Dilletanten“ (Martin Schmitz Verlag, Berlin 2018).
Anneke Lubkowitz, geboren 1990, promoviert an der Humboldt-Universität zum britischen Nature Writing im 21. Jahrhundert und ist Herausgeberin der Anthologie „Psychogeografie“ (Matthes & Seitz Berlin, 2020).
Ist die Psychogeografie eine melancholische Wissenschaft?
Slaski: Das hängt vom Aufbau ab. Ist man alleine unterwegs, wovon Guy Debord abrät, kann die Drift schon eine Tendenz zur Melancholie haben. In der Gruppe könnte das eher Richtung Abenteuer gehen. Wir haben auch ein Kinderprogramm. Die sind sicher nicht melancholisch unterwegs.
Lubkowitz: Wenn man zu den Lettristen und Situationisten zurückgeht, haben sie die Idee, dass die „Dérive“, das Umherschweifen durch unterschiedliche Viertel, sie sagen „abwechslungsreiche Umgebungen“, auch unterschiedliche Stimmungen antrifft: Da gibt es das melancholische, das heitere und dann das gefährliche Viertel. Das macht den Reiz aus, als ob man sich durch den Spaziergang sein eigenes Kunstwerk, sein eigenes Musikstück komponiert. Wenn man sich die Literatur anschaut, ist der Gedanke des Spiels enorm wichtig. In der Psychogeografie steckt ein enormes Potenzial, die Stadt wieder für sich zu gewinnen.
4.-7. Mai, Kunstquartier Bethanien
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen