Kleiner Piks, schwere Nebenwirkungen und ein riesengroßes Fragezeichen

Wie viele Menschen in Deutschland leiden nach einer Corona-Impfung unter schwerwiegenden Schäden? Eine einfache Antwort darauf gibt es nicht. Gesundheitsminister Karl Lauterbach verspricht den Betroffenen nun Unterstützung – an der es bislang arg mangelt

Von David Muschenich

Drei Jahre ist es in diesen Tagen her, dass die Coronapandemie mit voller Wucht in Deutschland ankam – und das ganze Land in den ersten Lockdown ging. Damals begann nicht nur für einen Großteil der Bevölkerung eine herausfordernde Zeit von leeren Supermarktregalen, Homeschooling und Angst vor einer Erkrankung. Auch die politisch Verantwortlichen waren in dieser Zeit mächtig unter Druck: Rasch musste gehandelt werden, auch wenn sich die Auswirkungen erst später vollständig zeigen würden. Sinnbildlich dafür steht der Satz des damaligen Bundesgesundheitsministers Jens Spahn (CDU): „Wir werden einander viel verzeihen müssen.“ Beim Thema Impfschäden kann einem dieser Satz wieder in den Sinn kommen.

Die Diskussion darüber brachte kürzlich Spahn-Nachfolger Karl Lauterbach (SPD) auf. Im Interview mit dem ZDF nahm der Minister erstmals ausführlich Stellung zu den Folgen der Corona-Impfung und versprach den Betroffenen Hilfe. So will er in den Haushaltsberatungen für ein Forschungsprogramm eintreten, von dem auch Post-Vac-Betroffene profitieren sollen. Doch davon abgesehen sorgte Lauterbach mit seinem Interview eher für Verwirrung: Wie viele Menschen sind von Impfnebenwirkungen oder von Post-Vac betroffen? Lauterbachs Aussagen suggerierten, dass es allein in Deutschland 20.000 Opfer von Impfschäden gibt. So viele? Klar ist nur: Einfache Antworten gibt es nicht.

In den drei Jahren voller unbekannter Risiken war wenig so kontrovers wie das Impfen. Anfangs ging es darum, wer wann die Impfung bekommt. Dann, wie gut sie wirkt. Die Enttäuschung war bei vielen groß, wenn sie sich trotz Impfung infizierten. Anfang 2022 kochte vor allem die Debatte um eine Impfpflicht hoch. Nun geht es darum, ob die Risiken richtig kommuniziert wurden und wie man mit Menschen umgeht, die unter Impfschäden leiden. Sind sie unvermeidliche Einzelschicksale, oder sollte die Gesellschaft sich um sie kümmern?

Zunächst zu den Fakten: Seit dem offiziellen Impfstart am 27. Dezember 2020 wurden in Deutschland rund 192 Millionen Impfungen gegen Corona verabreicht. Die überwiegende Mehrheit davon führte zu keinen Nebenwirkungen. Auf taz-Nachfrage erklärte die zuständige Behörde des Gesundheitsministeriums, das Paul-Ehrlich-Institut, dass bis Ende Februar etwa 339.000 Verdachtsfälle von Nebenwirkungen gemeldet wurden, 55.000 davon gelten als schwerwiegende Impfstoffnebenwirkungen. Allerdings ist nicht jeder Verdacht eine Nebenwirkung und für Beschwerden, die nach einer Impfung auftreten, kann es auch andere Ursachen geben. Um die typischen Nebenwirkungen herauszufiltern vergleichen Behörden weltweit, ob bestimmte Symptome bei Frischgeimpften häufiger auftreten als in der Gesamtbevölkerung statistisch erwartbar wäre. Wenn das so ist, werden die als Nebenwirkungen in die Produktinformation der Impfstoffe aufgenommen.

Impf­geg­ne­r*in­nen spielen die seltenen Fälle hoch, um den Erfolg der Impfkampagne in der Pandemie zu konterkarieren. Der Vorwurf: Die Bundesregierung habe bei den beworbenen Impfstoffen Gefahren verschwiegen. Eine Impfung sei risikoreicher als eine Infektion. Dem lässt sich entgegenhalten, dass langfristige Symptome nach der Impfung äußerst selten sind. So ist deutlich wahrscheinlicher, nach einer durchgemachten Corona-Infektion unter langfristigen Folgen zu leiden als nach einer Impfung. Ex­per­t*in­nen schätzen, dass unter zehn Infizierten einer Long-Covid-Symptome entwickelt, während unter Geimpften einer unter 10.000 vergleichbare Symptome entwickelt. Bisher sind die Zahlen aber nur bedingt aussagekräftig.

Den Betroffenen hilft es wenig, dass ihre Fälle selten sind. Zum Beispiel Antje Mönch. Für sie ist zweitrangig, wer welche Fehler gemacht hat, erklärt sie. Sie will wieder die Zeit mit ihren Kindern richtig genießen, joggen gehen und wieder voll ihrem Beruf als Richterin nachgehen. Seit mehr als einem Jahr geht das nur eingeschränkt. „Monatelang ging gar nichts“, sagt sie. Mönch war ständig erschöpft, konnte sich nicht konzentrieren und „stundenlang Arme und Beine nicht bewegen.“ Eigentlich heißt Antje Mönch anders. Aber weil sie Sorge vor Nachteilen im Beruf durch ihre Erkrankung hat, möchte sie nicht, dass ihr Name in der Zeitung erscheint.

Corona

Auch wenn Maßnahmen wie das Maskentragen aus dem Alltag fast ganz verschwunden sind, ist das Coronavirus noch da. Im Wochenbericht für die Zeit vom 6. bis 12. März schätzt das Robert-Koch-Institut (RKI) die Zahl coronainfizierter Menschen „mit Symptomen einer Atem­wegs­erkrankung“ auf 300.000 bis 800.000. Der grobe Wert kommt daher, dass kaum noch getestet wird. Was sicher ist: Die Zahl der Coronatoten lag in der genannten Woche bei 660. Die Gefährdung für die Gesamtbevölkerung laut RKI: „moderat“.

Influenza

Zugleich sieht das RKI seit Anfang März den Beginn einer zweiten Grippewelle, nun mit Influenza-B-Viren. Aber: Im Vergleich zum Herbst oder den Jahren vor Corona fällt die Welle bislang niedrig aus. (taz)

Lange sei der Ursprung ihrer Beschwerden nicht ernst genommen worden. Sie treten auf, kurz nachdem Mönch im Sommer 2021 ihre erste Corona-Impfung bekommt. Mönch hat sich aus Solidarität impfen lassen, erzählt sie. Sie ist unter 40 und gehört keiner Risikogruppe an. Aber weil sie Richterin ist, „können sich die Leute nicht aussuchen, ob sie mir begegnen oder nicht“.

Wenige Tage nach der Impfung habe sie Sehstörungen gehabt, die Arme und Beine seien taub gewesen, sagt sie. Während einer Gerichtsverhandlung bricht sie zusammen. Mönch kam in die Notaufnahme. Verdacht: Schlaganfall. Aber der konnte ausgeschlossen werden. Sie durfte gehen, ihre Symptome blieben. Hatte unter anderem Konzentrationsstörungen: „Ich konnte beim Lesen aus Buchstaben keine Wörter formen.“

Damals glaubte sie ihren Ärzt*innen, dass das nicht sein kann. „Vor solchen Nebenwirkungen wäre doch gewarnt worden“, habe sie anfangs gedacht. Heute sei sie sicher, dass es sich bei ihren Beschwerden um einen Impfschaden handelt.

Ein Impfschaden ist in Deutschland aber sprachlich gesehen etwas anderes als Nebenwirkungen oder schwerwiegenden Nebenwirkungen. Der Impfschaden bezieht neben den gesundheitlichen auch auf wirtschaftliche Folgen ein, die „das übliche Ausmaß einer Impfreaktion“ übersteigen. Wer unter einem Impfschaden leidet, kann in seinem Bundesland einen Antrag stellen und je nach Schwere der Schädigung bis zu 854 Euro Grundrente bekommen. Laut Recherchen von Süddeutscher Zeitung und Frankfurter Allgemeiner Zeitung haben bisher mehr als 6.600 Menschen einen solchen Antrag gestellt und 285 wurden demnach bereits genehmigt. Allerdings auch mehr als 2.000 abgelehnt. Auch Mönch rechnet damit, dass auch ihr Antrag abgelehnt wird. Die Juristin weiß, dass es schwer nachzuweisen ist, ob die Impfung ihre verschiedenen Symptome verursacht hat.

Die Ärz­t*in­nen hätten in den Wochen nach der ersten Impfung auf verschiedenen Wegen nach der Ursache für ihre Symptome geforscht. Sie führen eine Lumbalpunktion durch und verordnen Antje Mönch eine Kortison-Stoßtherapie: Über eine Infusion führen ihr die Me­di­zi­nie­r*in­nen hoch dosiert Kortison zu. Und es wirkt: „Danach war ich wieder symptomfrei.“ Mönch habe sich wieder gesund gefühlt. Weil die Ärz­t*in­nen ihr sagen, dass es nicht an der Impfung lag, holt sie sich acht Wochen nach der ersten Dosis die zweite – und die Beschwerden kehren zurück, schlimmer als zuvor. So bleibt Mönch meistens im Bett liegen, erzählt sie. Und sie sucht im Internet nach den Symptomen und vernetzt sich. Heute ist sie Mitglied im Verein „Post-Vac-Syndrom“ (PVS), bei dem sich Betroffene organisieren.

Corona-Impfschäden? Sind noch nicht sehr erforscht Foto: Laetitia Vancon/NYT/Redux/laif

Im Herbst 2021 wechselt sie ihre Hausärztin und die neue beginnt erneut mit der Diagnose. Sie finden Vernarbungen am Herz und Nervenschäden. Im Frühjahr 2022 besucht sie dann zum ersten Mal die Uniklinik in Marburg, eine der wenigen Anlaufstelle in Deutschland für Menschen, die nach der Impfung langfristige Beschwerden entwickeln. Die Behandlung dort habe sie nicht geheilt, aber geholfen. Mittlerweile kann Mönch wieder arbeiten. Sport sei aber immer noch nicht möglich und auch mit ihren Kindern kann sie nicht mehr wie früher die Freizeit gestalten.

In Marburg behandelt Bernhard Schieffer seit etwa einem Jahr Antje Mönch, er ist Direktor der Klinik für Kardiologie an der Uniklinik und leitet die Long-Covid-Ambulanz. Nachdem er im Februar 2021 seine ersten Patienten hatte, die Long-Covid-Symptome aufwiesen, ohne am Virus erkrankt gewesen zu sein, habe er kurze Zeit später die erste Spezialsprechstunde „Post-Vax“ eingerichtet. Mittlerweile habe er mit etwa 3.000 Menschen mit Beschwerden gesprochen. „Aktuell stehen 6.310 auf der Warteliste“, sagt er. Man dürfe ihn aber nicht missverstehen, er sei froh, dass die Impfung gegen Corona verabreicht wurde. „Wir wären nicht da, wo wir jetzt sind, wenn wir den Impfstoff nicht hätten.“ Was er kritisiert: Dass die Komplikationen bei der Impfung nicht systematisch genug erfasst wurden. Jetzt sei aber wichtiger, die Behandlung auszubauen.

„Absolut bestürzend“, nannte Lauterbach die Schicksale der Betroffenen. Für Antje Mönch sind solche Aussagen ein wichtiger erster Schritt. „Dann können wir endlich daran arbeiten.“