Wenn Gewalt verborgen bleibt

Noch vor ein paar Jahren wusste in Österreich kaum jemand, was ein Femizid überhaupt ist. Ak­ti­vis­t:in­nen haben dafür gesorgt, dass das Thema in die Öffentlichkeit gekommen ist. Aber der Weg für Betroffene ist noch weit

Demonstration zum 8. März in Wien: Gewalt aufgrund sexueller Identität als übergreifendes Thema Foto: Georg Hochmut/apa/picture alliance

Von Matthias Meisner

Die Ak­ti­vis­t:in­nen der Gruppe „Claim the Space“ nennen den Ort in Wien „ehemaliger Karlsplatz“, obwohl auf den Straßenschildern noch der alte Name steht. Zum Ende jedes Monats demonstrieren sie hier unweit der Karlskirche gegen Femizide, an dem Platz, der nach Bischof Karl Borromäus benannt ist, jenem Stadtheiligen, der Ende des 16. Jahrhunderts mit seinen Inquisitoren die Verfolgung und auch Verbrennung vermeintlicher Hexen organisierte. „In unseren Augen ein passender Ort, um ihn uns zu nehmen und einen Raum für Trauer, Wut, aber auch Solidarität zu schaffen“, erklären die Ak­ti­vis­t:in­nen der taz.

Es ist ein Protest unter dem Motto: „Nehmt ihr uns eine, antworten wir alle.“ Betroffene von geschlechtsspezifischer Gewalt sollen sich „nicht mehr ohnmächtig fühlen“. Gar von „einem Aufschrei“ ist die Rede. Die Demonstrierenden auf dem Karlsplatz singen das „Canción sin miedo“ (Lied ohne Angst) von Vivir Quintana, zählen jeden Femizid der vergangenen 365 Tage auf und schreiben ihn mit Kreide auf den Boden. Nicht alle finden das gut: Zuweilen unterbricht die Karlskirche mit Glockengeläut und einer „Stadtsegnung“ die Redebeiträge und das kämpferische feministische Gedenken.

Die hohe Zahl von Femiziden – die Ak­ti­vis­t:in­nen gehen von 30 im vergangenen Jahr aus – war im Alpenland lange kaum ein Thema. Ein Tag, und sei es der Weltfrauentag, reicht längst nicht aus, ihm die gebührende Aufmerksamkeit zu verschaffen. Und deshalb demonstrierte „Claim the Space“ am Mittwoch in Wien gemeinsam mit anderen Organisatoren mit Parolen wie „Jeder Tag ein 8. März!“, „Gegen Femizide“ und „#NoFlowers“.

Die österreichische Journalistin Yvonne Widler, Autorin des eben erschienenen Buches „Heimat bist du toter Töchter. Warum Männer Frauen ermorden – und wir nicht wegsehen dürfen“ schreibt: „Noch vor zehn Jahren hätte in Wien, in ganz Österreich, wohl kaum jemand gewusst, was ein Femizid überhaupt ist.“ Das ändere sich langsam. Das wiederum liegt auch an einer vorbildlichen Protestkultur, die zum Thema macht, dass in Österreich das Problem im europäischen Vergleich besonders ausgeprägt ist.

Über Jahre lag die Zahl getöteter Frauen in Österreich höher als die von Männern. Das ist deswegen bemerkenswert, weil Frauen häufig aus anderen Motiven getötet werden als Männer: Es ist ein mysogynes Töten, als Antrieb gelten Hass, Machtgelüste, Verachtung. Und oft sind die Täter aktuelle oder ehemalige Partner. Die Coronapandemie mit ihren Ausgangsbeschränkungen hatte das Problem zusätzlich verschärft.

Die Ak­ti­vis­t:in­nen auf dem Karlsplatz sprechen von Gewalt gegen „FLINTA*-Personen“ – das Akronym steht für Frauen, Lesben, intersexuelle, nichtbinäre, trans und agender Personen – also für all jene, die aufgrund ihrer Geschlechtsidentität patriarchal diskriminiert werden. Erst kürzlich machten sie einen „Transizid“ publik – die Ermordung der trans Person sei „gänzlich unsichtbar“ gemacht worden, auch weil sie wohnungslos war und keinen österreichischen Pass hatte.

Auf die Frage nach dem Grund, warum geschlechtsspezifische Gewalt so häufig vorkommt, sagt eine der Aktivist:innen: „Österreich schreibt der bürgerlichen Kleinfamilie einen sehr hohen Wert zu, womit traditionelle Geschlechterrollen und Arbeitsteilungen, also auch ein Besitzanspruch des Mannes über die Frau einhergehen.“ Es fehle an finanzieller Förderung für den Gewaltschutz. Rechte Hetze und rassistische Stimmungsmache dominiere viele Debatten – etwa indem Morde in die Kategorie „importierte Gewalt“ gezwängt würden. In Fällen, in denen das nicht möglich sei, werde in der öffentlichen Diskussion und in der Presse noch viel zu oft ein „Liebesdrama-Narrativ“ um die Morde gesponnen. Die In­itia­to­r:in­nen der Proteste geben allerdings zu: Femizide würden inzwischen auch in Österreich häufiger als solche benannt, weniger als früher als zufällige Taten, als „Eifersuchtsdrama“ oder Folge eines „Rosenkriegs“ verharmlost.

Verbrechen werden kaum noch als „Eifersuchtsdrama“ oder „Rosenkrieg“ verharmlost

Auf dem Papier erscheint manches in Ordnung. Buchautorin Widler sagt, dass Österreich 1997 mit dem etablierten Gewaltschutzgesetz Vorreiter und Vorbild in der EU gewesen sei. In einem 31-seitigen Bericht bescheinigte sich das Bundeskanzleramt im Wien im März 2021, dass Österreich bei der Umsetzung der elf Empfehlungen der zuständigen Kommission des Europarats zur Istanbul-Konvention gut vorankomme: Weitere Verbesserungen hätten „hohe Priorität“, die „bestmögliche Umsetzung“ der Konvention sei geplant. Die Istanbul-Konvention ist ein 2014 geschlossenes Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt.

Ex­per­t:in­nen wie die renommierte Familienrechtsanwältin Helene Klaar aber warnen davor, dass sich „Gewalt gut verbergen kann“. Dina Nachbaur vom Wiener Verein Neustart, der sich für Gewaltprävention engagiert, berichtete im NDR, dass nach gewalttätigen Ausbrüchen oft wieder so etwas sei „wie Flitterwochen“, mit Geschenken und mehr. Die Versuchung, dem gewalttätigen Partner eine neue Chance zu geben, sei dann besonders groß. Der Ausstieg aus einer Gewaltbeziehung von heute auf morgen sei schwer. Die Ak­ti­vis­t:in­nen aus Wien weisen noch auf ein weiteres Problem hin. Die Verurteilungsrate nach häuslicher Gewalt sei „sehr gering“, Ermittlungsverfahren nach Anzeigen würden oft eingestellt. Ihre Proteste sind noch lange nicht überflüssig.

Am 8. März erschien im Verbrecher Verlag das Buch „Femi(ni)zide. Kollektiv patriarchale Gewalt bekämpfen“ eines österreichischen Au­to­r:in­nen­kol­lek­tivs. 300 Seiten, 19 Euro