debatte
: Mehr als Youtube-Filmchen

Bei der Weiterbildung setzt Deutschland bisher auf Quantität. Um etwas zu bewirken, müssen die Angebote intensiver und besser zugänglich sein

Seit Januar liegt auf Bundesebene ein Entwurf für eine Bildungszeit für Weiterbildung vor. Beschäftigte sollen durch individuellen Antrag die Chance bekommen, sich bis zu 12 Monate in Vollzeit oder bis 24 Monate in Teilzeit weiterbilden zu können. Dazu braucht es eine Vereinbarung zwischen Arbeitgeber und Beschäftigten. Der Arbeitgeber muss das Gehalt während der Weiterbildung nicht weiterbezahlen, sondern die Beschäftigten erhalten rund zwei Drittel ihres Gehalts vom Staat. Die Kursgebühren werden bei Geringverdienenden mindestens zur Hälfte oder sogar ganz vom Staat übernommen.

Der Entwurf aus dem Arbeitsministerium ist erkennbar inspiriert von der Bildungskarenz in Österreich. Dort wird seit zwei Dekaden praktiziert, was in Deutschland als vermeintliche Illusion abgetan wird. Was aber besagen Evaluationen im Alpenland? Die Zahl der Nut­ze­nden ist über die Jahre hinweg angestiegen und lag 2018 bei 15.000 Menschen von rund 4,3 Millionen Beschäftigten. Die Bildungskarenz wird als kleine, aber feine Maßnahme charakterisiert. Bezogen auf die Teilnehmenden pro Jahr ist sie von geringer Bedeutung, doch das mit der Bildungskarenz verbundene Zeitvolumen ist beträchtlich und Einkommenssteigerungen (rund 10 Prozent bei der Hälfte der Teilnehmenden) und berufliche Veränderungen sind in Analysen zu beobachten. Die Karenz wird überproportional von Aka­de­mi­ke­r*in­nen genutzt, wenngleich 59 Prozent aller Nutzenden keinen akademischen Abschluss haben.

In Deutschland dagegen fixierte man sich, europäischen Zielsetzungen gemäß, auf die Teilnahmequote. Rund 50 bis 60 Prozent der Bevölkerung sollten demnach jährlich eine Weiterbildung besuchen. Egal, ob es sich um eine zweistündige Schulung oder eine lange Umschulung handelt. Es ist gut zu wissen, wie breit die Bevölkerung an Weiterbildung teilnimmt oder nicht, aber die Teilnahmequote allein ist wenig aussagekräftig.

Es wäre also angebracht, mit einer intensiven Bildungszeit quasi eine Zeitenwende einzuläuten: Nicht mehr primär auf Quantität zu achten, um viele Menschen in kurze Weiterbildungen zu bringen (2020 dauerte eine Weiterbildung im Schnitt nur 34 Stunden), sondern um weniger Menschen mit Bedarf und freiwillig intensiv weiterzubilden. Angesichts der großen Transformationen in Wirtschaft, Wissenschaft und Ökologie braucht es einen Qualitätssprung zu mehr Klasse. Hier stellen sich auch Gerechtigkeitsfragen: Um mehr Benachteiligte zu erreichen, muss analysiert werden, wer bisher Weiterbildungen nutzt – und wie ein besserer Zugang für alle erreicht werden kann.

Foto: Anja Schaal

Bernd Käpplingerist Professor für Weiterbildung an der Uni Gießen. Er befasst sich mit Weiterbildungsteilnahme, -politik und Bildungsberatung.

Die Bildungszeit soll private oder betriebliche Weiterbildung nicht überflüssig machen. Sie soll sie ergänzen in dem Sinne, dass sich für große Weiterbildungen im Alltagsstress kaum Zeit genommen wird. Bildungszeitgesetze der Länder sehen „nur“ Freistellungen von oft fünf Tagen vor. Das kann Impulse bringen, aber in fünf Tagen werden sich keine riesigen Wissens- und Kompetenzsprünge ereignen. Youtube-Videos sind schön für alltägliches Lernen en passant, aber OIym­pia­sie­ge­r*in wird damit niemand.

In den letzten Dekaden stagnieren die öffentlichen Weiterbildungsausgaben und inflationsbereinigt sinken sie, trotz aller Sonntagsreden. In Deutschland geben Bund und Länder geschätzt rund fünfmal mehr für Hochschulbildung, für frühkindliche Bildung viermal mehr und für Berufsbildung im Dualen System doppelt so viel aus wie für Weiterbildung. Frühe Investitionen sind sicherlich wichtig, aber diese extreme Schieflage ist unangemessen in einer alternden Gesellschaft, in der seit mehr als zehn Jahren schon weniger Menschen unter 20 Jahren leben als Menschen über 67 Jahre. Der geschätzte Bedarf von 334 Millionen für die Bildungszeit im Jahr 2026 sind keine Peanuts, aber ein Beitrag zur Normalisierung der Relationen im Sinne des lebenslangen Lernens.

Der Gesetzentwurf muss kritisch befragt werden: Werden alle Beschäftigten angesprochen? Was ist mit Selbstständigen und Beschäftigten in kleinen Betrieben? Führt mehr Zeit wirklich zu mehr Qualität? Ist eine Zertifizierung auf Angebots- statt Anbieterebene flexibel genug? Warum muss die oft in der Bevölkerung unbeliebte Bundesagentur für Arbeit dafür zentral sein? Genügen zwei oder bräuchte es nicht eher drei Jahre Zeit? Wie findet man das passende Angebot? Könnte man wichtige Themen mit gesellschaftlichem Bedarf besonders anregen? Braucht es eine Förderung nur für Berufliches oder auch für politische Bildung oder Gesundheitsbildung?

Daneben kann jedoch kritisch gefragt werden, was vom Bundesbildungsministerium (BMBF) an Impulsen und Innovationen in der Weiterbildung durch Stark-Watzinger kommt und zuvor von Karliczek kam? Bildungsprämie? 2021 abgeschafft! Infotelefon Weiterbildung? 2022 abgeschafft! Dafür Pläne zu einer nationalen Bildungsplattform im Internet, was auf den MILLA-Entwurf der CDU-Bundestagsfraktion aufbaut, der ein „Netflix der Weiterbildung“ vorschwebte, wo man „Binge-Learning“ abends auf der Couch betreiben soll, wenn die Kinder schlafen. Das Arbeitsministerium wirft mit dem Entwurf vielleicht Fragen auf, aber vom Bundesbildungsministerium kommt relativ wenig. Ein Schelm, wer denkt, dass ein FDP-Finanzminister aktuell einen Gesetzentwurf bremst, um dem SPD-Arbeitsministerium keinen Erfolg zu gönnen, wenn ein FDP-geführtes Bildungsministerium in Weiterbildungsfragen eher durch eine Art Grabesruhe auffällt.

Vier Mal so viel Geld für früh­kindliche Bildung wie für Wei­terbildung ist unange­messen für eine alternde Gesellschaft

Alles in allem weist die Bildungszeit in eine gute Richtung, aber sie springt (noch) zu kurz. Wenige Gesetze waren schon mit ihrer Verabschiedung ein Erfolg, sondern sie mussten wie guter Wein reifen. Aktuell scheint es in einer gehetzten Zeit zwar gnadenlose Urteile, aber keine Zeit zu geben. Vor allem Bildung, aber auch Gesetze brauchen etwas Muße. Der Bildungszeit wäre trotz aller Kritik eine Chance zu gönnen – als Schritt hin zu einer Zeitenwende in der Weiterbildung.