schlechtes vorbild
: Die Debatte um die Berliner Silvesterkrawalle ist ein rassistischer Haufen Mist

Die Debatte über Böllerverbote gehört in Berlin zur Neujahrs-tradition wie „Dinner for One“ und Jugendliche, die sich gegenseitig mit Raketen abschießen. Jedes Jahr, die Pandemie ausgenommen, entdecken irgendwelche Kom­men­ta­to­r:in­nen oder Po­li­ti­ke­r:in­nen eine neue Stufe der Eskalation. Die Rufe nach Böllerverboten folgen dann stets auf dem Fuße. Der Ton dieser Debatte ist meist rau, denn alle Argumente sind längst ausgetauscht und die Fronten verhärtet. The same procedure as every year.

Diesmal wurde aber tatsächlich eine neue Eskalationsstufe erreicht. Allerdings nicht unbedingt hinsichtlich der Ausschreitungen in der Silvesternacht, obwohl die heftig waren: Be­am­t:in­nen wurden verletzt, Barrikaden brannten, ein Reisebus brannte aus, nicht nur die Polizei, auch Rettungskräfte wurden auf das Heftigste mit Pyros beschossen. Die Feuerwehr redet von Hinterhalten, die Rettungskräfte konnten wohl teils nur unter Polizeischutz Löscharbeiten leisten. Ein Jugendlicher warf einen Feuerlöscher auf einen Krankenwagen, sodass die Scheibe zerbarst.

Ganz klar: Angriffe auf Rettungskräfte sind eine rote Linie, die Konsequenzen nach sich ziehen müssen. Aber dieses Jahr hat sich der Diskurs so schnell in einen rassistischen Haufen Mist verwandelt, dass man sich übergeben möchte. Unisono sprachen sich Boulevardzeitungen, bürgerliche Presse, rechte Po­li­ti­ke­r:in­nen bis hin zur SPD und vermeintliche Ex­per­t:in­nen Mut zu, die „unbequeme Wahrheit“ auszusprechen: Die Krawalle seien ein „Migrationsproblem“, so Bild.

Geredet wurde quasi sofort nur noch über den migrantisch geprägten Bezirk Neukölln, nicht etwa über die Ausschreitungen im Stadtrandkiez Lichtenrade, wo Vermummte (unbekannter Herkunft) die Feuerwehr mit Latten und Pfefferspray attackiert haben sollen. Ignoriert wurde, dass die Zahl der Menschen, die tatsächlich vorsätzlich Rettungskräfte attackierten, nicht größer als einige Hundert gewesen sein dürfte. Dass, wie die taz aus gut informierten Kreisen weiß, durchaus auch weiße Stu­den­t:in­nen aus bürgerlichen Verhältnissen mit Schreckschusswaffen und Pyrotechnik hantierten. Der Fokus verengte sich sofort, in den Worten des CDU-Politikers Christoph de Vries, auf den „Phänotypus: westasiastisch, dunklerer Hauttyp“.

Viel gefährlicher als jede Böllerei ist diese Gesellschaft, in der ein solch widerlicher Rassismus längst bis in die Mitte hinein sagbar geworden ist. Zufall ist die völlige Entgleisung dieser Debatte aber nicht. Auf die bösen Ausländer zu zeigen, wenn es eigentlich um Klassenfragen geht, ist schließlich eine Kernstrategie des reaktionären Bürgertums. Denn geballert und randaliert wird zumeist in abgehängten Vierteln – in „sozialen Brennpunkten“, wie man so hässlich sagt –, die, so ist es im rassistischen Kapitalismus nun mal, migrantisch geprägt sind.

Gutes/schlechtes Vorbild

Was woanders richtig gut läuft oder gerade auch nicht, findet auf jeden Fall hier seinen Platz.

Für manche mag schockierend sein: Menschen, die sich ihr Leben lang mit einem ihnen gegenüber übermächtigen System herumschlagen müssen – mit Lohnarbeit, Miethaien, Ausländerbehörden, Jobcentern –, können es als Befreiung empfinden, mit einer Schreckschusspistole herumzuballern und etwas hochzujagen. Das macht die Randale weder politisch im engeren Sinne noch entschuldigt es Angriffe auf Rettungskräfte. Aber wie heißt es in einem alten Lied der Hausbesetzerszene: „Leute seht genau hin / woher kommt denn die Gewalt / am Anfang war doch nicht der Pflasterstein“. Timm Kühn