Der Wunschkönig

Pelé war ein Alleskönner. Ein Ausnahmefußballer, dessen Größe auch seine Bewunderer größer werden ließ und dem man vieles nachsah. Am Donnerstag ist er im Alter von 82 Jahren verstorben

Jubelnder Pelé mit Mitspielern bei WM-Finale 1970

Pelé und Team­kameraden freuen sich über ein Tor im WM-Finale 1970 gegen Italien   Foto: Fo­to:­Sven Simon/imago

Von Johannes Kopp

Vor wenigen Wochen erst wurde Pelés letzter WM-Auftritt gefeiert. Das brasilianische Spiel hatte gegen Südkorea zu seiner atemberaubenden Schönheit aus ganz alten Tagen zurückgefunden, der Einzug ins Viertelfinale stand fest, und Neymar und seine Teamkollegen trugen nach Schlusspfiff ein Banner mit einem Foto von Brasiliens größtem Fußballer aufs Spielfeld. Neben dem Bild stand einfach: Pelé! Zu der Zeit rang die 82-jährige Legende im Albert-Einstein-Krankenhaus von São Paulo schon um ihr Leben. Und nicht wenige dürfte in diesem Moment der romantische Gedanke ergriffen haben, dass die Seleção den WM-Pokal mit und für Pelé gewinnen wird.

Letztlich reckte der Argentinier Lionel Messi, ein anderer Fußballheiliger, die Trophäe in den Himmel, und viele auf der Welt betrachteten das wohlwollend als das logische Ende seines Lebenswerkes. Wie Diego Maradona und Pelé stand ihm das einfach zu. Im Schatten der Großen dieses Sports verschwinden Teams und ganze Länder. Und mit der Größe der Bewunderten werden die Bewunderer auch immer ein Stück größer. Der Wunsch, Pelé oder andere zum größten Fußballer aller Zeiten zu erklären, hat immer etwas damit zu tun, das eigene Leben ein wenig aufzuwerten. Gegenwartszeuge von etwas ganz Besonderem gewesen zu sein. Ihn vielleicht mit eigenen Augen gesehen zu haben. Insofern haben viele Pelé, der andächtig oft auch „O Rei“ (der König) genannt wurde, viel zu verdanken. Und seine Persönlichkeit ist angesichts so großer Projektionen, denen er ausgesetzt war, kaum zu erfassen.

Der Druck, der auf ihm lastete, als in Brasilien eine Militärdiktatur herrschte und bei seiner letzten WM 1970 alle von ihm und dem Team den Titel erwarteten, war immens. „In diesem Moment wollte ich nicht Pelé sein“, sagte Pelé im Rückblick. Das große Geschenk des Sieges, sein insgesamt dritter WM-Titel, sei nicht die Trophäe, sondern die Erleichterung gewesen. Vor Pelé machten sich selbst die wichtigsten Staatenlenker klein. In den USA stellte sich einer ihm so vor: „Mein Name ist Ronald Reagan, ich bin der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Sie hingegen müssen sich nicht vorstellen, denn Pelé kennt wirklich jeder.“

Um den Spitznamen Pelé des mit bürgerlichen Namen Edson Arantes do Nascimento Heißenden ranken sich zahlreiche Legenden. Pelé selbst zufolge hatte ihm ein Mitschüler den Namen verpasst, um ihn zu hänseln. Weil Edson sich darüber so aufregte und kleingemacht fühlte, klebte der Name auf immer an ihm und wurde zum Inbegriff von Größe. Pelé kam aus ärmlichen Verhältnissen. Sein Vater war ein mäßig begabter Fußballer, seine Mutter Wäscherin und der kleine Pelé musste als Schuhputzer ein wenig Geld hinzuverdienen. Erzogen wurde er streng katholisch. Fluchen war verboten und über Sex wurde nicht gesprochen. Das erzählte er in seiner Autobiographie „Mein Leben“.

Mit noch nicht einmal 16 Jahren debütierte er in der brasilianischen Liga, ein paar Monate später schon in der Nationalmannschaft. Zum Weltstar wurde er noch minderjährig, als jüngster Spieler bei der WM 1958 in Schweden. Die ersten beiden Spiele ließ ihn Trainer Vicente Feola noch draußen, dann wurde Pelé zur Entdeckung des Turniers und erzielte sechs Tore. Schon damals wurde der 17-Jährige als Alleskönner bewundert. Ein begnadeter Techniker mit Übersicht, mit 11 Sekunden auf 100 Metern unglaublich schnell, beidfüßig, kopfball- und abschlussstark. Einer mit Sinn für Strategie und Intuition. Berühmt sein Tor gegen Schweden zum 3:1, als er den Ball mit der Brust annahm, ihn kunstvoll über den Verteidiger hob und volley vollendete.

Fußball ist aber nicht nur Fußball. Mit dem WM-Titel in Schweden erlangte eine ganze Nation mit sehr mäßiger Wirtschaftskraft Weltbedeutung. Und damit eng verwoben war der Name Pelé.

Globale Zuneigung schlug auch seinem Verein, dem FC Santos, entgegen, Weltpokalsieger von 1962 und 1963, den er trotz lu-krativer Angebote aus Europa erst am Ende seiner Karriere verließ. Der Klub verdiente damals auf Weltreisen dank Pelé gutes Geld und konnte sich vor Engagements kaum retten. Bis zu hundert Partien bestritt der Weltstar in einer Saison aufgrund der vielen Tourneen. Die kapitalistische Verwertungslogik hielt Einzug in das beliebte Spiel. Und Pelé wurde Paradebeispiel für schwindelerregenden sozialen Aufstieg, die der Fußball möglich machen konnte.

Er erhielt etliche gut dotierte Werbeverträge und zu seiner aktiven Zeit eine kleine TV-Rolle in einer Telenovela. In seiner Autobiographie beschrieb er, wie er als 26-Jähriger sein Geld und seine Geschäfte abseits des Fußballs einem Freund anvertraute. „Ihm zur Seite standen neun weitere Angestellte, fünf Rechtsanwälte, zwei Volkswirte, jemand für die Pressearbeit und eine Sekretärin.“ Das waren damals Sphären, die wohl ähnlich weit entfernt von der Lebenswelt der Fans waren, wie das heute bei der Honorierung von Ausnahmefußballern der Fall ist. Weil Pelé häufig den falschen Freunden vertraute, kam er aber immer wieder in Geldnot. Ein Grund auch, weshalb er am Karriereende das attraktive Angebot von New York Cosmos nicht ausschlagen konnte, das ihm sechs Millionen Dollar einbrachte und später dann die Bekanntschaft mit dem Teamkollegen Franz Beckenbauer.

„Pelé war einer der wenigen, die meiner Theorie widersprechen: Anstelle von 15 Minuten wird er 15 Jahrhunderte Ruhm haben“

Andy Warhol

Ähnlich wie bei Beckenbauer wurde Pelé von seinen Landsleuten vieles nachgesehen – zumindest nach einer gewissen Verjährungsfrist. Viele bedauerten es sehr, dass er sich nach dem WM-Titel 1970 vom Diktator Medici zu sehr vereinnahmen ließ, der lieber mit schönem Fußball statt mit Folter in Verbindung gebracht werden wollte. Schon damals nutzten die Politiker die Macht der Bilder. Und Medici umarmte bei der Siegesfeier vor den Kameras Pelé. Distanzierende Worte von Pelé hätten damals gewiss eine große Macht gehabt. In seinen Erinnerungen schrieb er: „Natürlich war das auch in politischer Hinsicht eine gute Werbung für unser Land. Doch es war offensichtlich, dass sich der Präsident auch einfach als Fußballfan und Patriot über unseren Sieg freute.“ Pelé nahm das Privileg der Naivität für sich in Anspruch. Einmal sagte er, man dürfe sich in der Bewertung der Militärdiktatur, wer auf welcher Seite stand, nicht in den kleinen Dingen verlieren. „Ich bin Brasilianer, ich will das Beste für mein Volk.“

Pelé wollte aber nicht nur als Fußballer Anerkennung. Während seiner Karriere büffelte er für Uni-Zulassungsprüfungen und absolvierte ein dreijähriges Sportstudium. Als erster Schwarzer wurde er von 1995 bis 1998 unter der Regierung des Präsidenten Fernando Henrique Cardoso Sportminister.

Sein Leben lang war er und blieb er vor allem Anwalt des schönen Spiels. O Jogo Bonito, wie es die Brasilianer nennen. Als bei der WM 1966 die Gegner durch überhartes Spiel Pelé erfolgreich aus dem Spiel nahmen, zerbrach für diesen eine Welt. Er wollte danach seine Nationalmannschaftskarriere an den Nagel hängen. Die Einführung der Gelben und Roten Karte bei der WM 1970 feierte Pelé als eine der großen neuen Errungenschaften des Spiels. Am Ende seiner Laufbahn hatte er 1.282 Treffer erzielt, welche die Gegner bei allem Bemühen nicht verhindern konnten. Eine unglaubliche Zahl, hinter der sich noch unglaublichere Schönheit verbirgt.

Andy Warhol sagte einmal: „Pelé war einer der wenigen, die meiner Theorie widersprechen: Anstelle von 15 Minuten wird er 15 Jahrhunderte Ruhm haben.“