Besinnliches zum Jahreswechsel: Bis einer heult

Die Weltlage könnte besser sein, die allgemeine Stimmung auch. Unser Kolumnist wünscht trotzdem „Frohes Fest“, wenn auch mit geballten Fäusten.

Molotowcocktail wird geworfen, im Hintergrund brennt es schon

Irgendwann ist dann auch egal, ob die Flasche nun halb voll oder halb leer ist Foto: Socrates Baltagiannis/dpa

Ich habe viele Leute weinen sehen in den letzten Tagen. Allein fünf beim Weihnachtskonzert des Grundschulchors, obwohl es da schon dämmerte und die Dunkelziffer deutlich höher liegen dürfte. Die Kinder singen etwas schief, aber sehr schön, und das rührt einen ja irgendwie auch an. Ein paar dieser Singzwerge kommen aus der Ukraine und sind wohl ganz gut angekommen in den Klassen – und eben auch im Chor. Ihre Mütter stehen als Grüppchen etwas am Rand. Sie weinen nicht und filmen auch etwas weniger als die Eingeborenen, was mich beides wundert, aber streng genommen auch nichts angeht.

Was mich hingegen sehr wohl betraf, war der Junkie zwei Tage vorher, der so plötzlich von null auf hundert losheulte, weil ich ihm kein Geld zustecken wollte. Und auch nicht konnte, weil ich mein Portemonnaie versehentlich mit meinen anderen Lumpen im Bahnhofsschließfach deponiert hatte.

Eine leichte Mitschuld hatte ich auch an den zwei oder drei Tränen einer Freundin, weil ich „ja“ gesagt hab, als sie fragte, ob mein Vater nicht irgendwann dieser Tage Geburtstag gehabt hätte.

Die Welt ist schlecht

Es ist furchtbar, wie beschissen es allen geht. Gleich drei Freunde haben mir in den letzten Wochen erzählt, sie hätten kürzlich zum ersten Mal in Teamsitzungen oder am Rande von Dienstbesprechungen geheult.

Ich selbst bin den Dezember bislang noch trocken geblieben – wobei ich ein paar Mal auch schnell in Deckung gehen musste. Bei dem Junkie zum Beispiel hab ich mich schnell rüber ins Analytische gehechtet: Weil, wegen Kapitalismus heult man schließlich nicht; da ist man ganz tief drinnen kritisch und an der Oberfläche eher so konstruktiv wütend. Und in einer Kunstausstellung bin ich einer Arbeit über „stille Geburten“ gleich ausgewichen.

Apropos Kunst: Die werkgruppe2 hat vor einer Weile mal eine Serie von Onlinevideos produziert, in denen Schau­spie­le­r:in­nen über Tränen auf der Bühne sprechen und manche auch welche vorweinen. Die ist wunderschön, und es steckt auch alles Wichtige viel klüger und schöner drin, als ich es eigentlich gerade aufschreiben wollte.

Ich hoffe, Sie haben schöne Weihnachten. Wirklich! Bei mir stehen die Chancen ganz gut. Der Baum ist schon da, die Kindergeschenke sind super, und auf energischen Wunsch hin werden wir wohl „Star Wars“ gucken, Episode IV natürlich, auch wenn der bereits im Kindergarten durchgespoilerte Sohn lieber chronologisch einsteigen würde. Das kann er aber vergessen, weil es schließlich auch mein Weihnachten und die Weltlage wie gesagt schon finster genug ist, um sich auch noch mit Franchise- und Prequelscheiße zu belasten.

Lieber wütend als traurig

Sie haben’s bestimmt gemerkt: Auch das ist wieder so ein taktischer Rückzug von der emotionalen auf die Reflexionsebene. Aber wenn’s halt hilft …

Und wenn wirklich irgendwas besser werden soll im neuen Jahr, kommen wir wohl alle nicht drumrum, ein bisschen konstruktiv-wütend zu werden, statt immer nur traurig. Ein Anfang wäre zum Beispiel, vorerst wenigstens nicht mehr auf der Arbeit zu weinen. Schon gar nicht vor Glück, weil man den läppischen Inflationsausgleich ab Januar mit einem großherzigen Weihnachtsgeschenk verwechselt hat, oder so.

Das wäre jedenfalls mein Weihnachtswunsch für je­de:n und alle: stabil geballte Fäuste für die Gehaltsverhandlungen, auf dem Amt, beim Schachern um Honorare – oder wo auch immer die Kohle herkommt. Und dann kann man’s sich ja gern auch gemütlich machen und vielleicht ein bisschen traurig sein, über Sachen, die ein paar Tränen auch wirklich wert sind. Frohe Weihnachten!

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Jahrgang 1982, schreibt aus dem Bremer Hinterland über Kultur und Gesellschaft mit Schwerpunkten auf Theater, Pop & schlechter Laune.

Dieser Artikel stammt aus dem stadtland-Teil der taz am Wochenende, der maßgeblich von den Lokalredaktionen der taz in Berlin, Hamburg und Bremen verantwortet wird.

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