„Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit“

Auch in Chinas Hauptstadt Peking haben Menschen erstmals seit Jahrzehnten ihren Unmut auf die Straße getragen. Es ist, als sei im Land ein Damm gebrochen. Der Protest hat eine neue Dimension erreicht

Sonntagabend in Peking: Menschen demonstrieren gegen Chinas harte Coronapolitik und gedenken der Opfer eines Brandes in der Stadt Urumqi Foto: Thomas Peter/reuters

Aus Peking Fabian Kretschmer

Es ist bereits nach Mitternacht, doch die Menschen harren weiter in der Pekinger Novemberkälte aus. Sie haben sich in der Nacht auf Montag zu Tausenden nahe dem Fluss Liangma versammelt, nur einen Steinwurf vom Botschaftsviertel entfernt. Unter den wachsamen Augen von Diplomaten und Korrespondenten erheben sie ihre Stimme, die aufgrund von Repressionen und Zensur lange Zeit stumm geblieben war.

„China ist ein Land, keine Partei“, schreit eine Frau inbrünstig. Sie trägt keine Maske. Dutzende der anrückenden Polizisten – manche in Uniform, manche in Zivil – blicken ihr direkt in die Augen. Doch sie lässt sich nicht einschüchtern. Nur ein paar Meter entfernt stimmt nun ein weiterer Demonstrant, der auf eine Steinmauer geklettert ist, an: „Das Land gehört unserem Volk, nicht ihnen!“

Damit ist unmissverständlich jene Parteiführung gemeint, die seit der Pandemie weniger denn je bereit ist, ungewollte Meinungen zuzulassen. Das gesamte Jahr 2022 wurde in fast allen chinesischen Städten von rigiden Lockdowns und schikanierenden Coronabeschränkungen dominiert. Die Folgeschäden betrafen nahezu alle Chinesen, wenn auch in unterschiedlicher Intensität. Doch die Zensur versuchte mit immer brachialeren Methoden, sämtliche Stimmen aus dem öffentlichen Diskurs auszuradieren, die von der Scheinidylle der offiziellen Propaganda abwichen. Unter der Oberfläche jedoch brodelte es seit Längerem.

„Was in den letzten 24 Stunden passiert ist, ist insofern neuartig, als dass Demonstranten in mehreren Städten auf die Straße ziehen und offensichtlich voneinander wissen, was in anderen Teilen des Landes passiert“, kommentierte William Hurst, Politikwissenschaftler an der Cambridge-Universität, am Montagvormittag. Bisher gab es seit dem Tiananmen-Massaker von 1989 in China vor allem lokal begrenzte Proteste – etwa gegen unmenschliche Arbeitsbedingungen in einzelnen Fabriken oder gegen die Inkompetenz einer Kommunalbehörde. Diesmal ist der Dissens breiter und hat praktisch das gesamte Land erfasst.

Bis Redaktionsschluss am Montagnachmittag wurde ein weiterer für Montag geplanter Protest in Peking allerdings verhindert. Dutzende Polizisten blockierten eine Kreuzung nahe dem Treffpunkt. Auch in Shanghai gab es am Montag eine starke Polizeipräsenz.

Am 13. Oktober hatte der sogenannte Bridge Man dem Frust der Chinesen erstmals ein Gesicht gegeben. Er zog, mit einer orangefarbenen Arbeitsweste als Bauarbeiter getarnt, auf die Sitong-Brücke in Peking, um dort Spruchbänder am Geländer anzubringen: „Wir wollen Bürger sein, keine Sklaven“ stand auf einem der Banner. Viele dachten, es handele sich um den einsamen Protest eines Verzweifelten, der nun für den Rest seines Lebens verstummen wird.

Doch nun sind seine Slogans auch mitten im Pekinger Chaoyang-Bezirk angekommen. „Wir wollen keine PCR-Tests, wir wollen Freiheit“, schreit die Menge am Sonntagabend immer wieder. Dass sie sich ausgerechnet hier versammelt hat, wo die meisten Korrespondenten wohnen und die Botschaften angesiedelt sind, ist kein Zufall: Die Weltöffentlichkeit schaut auf jene mutigen Pekinger, die erstmals seit Jahrzehnten ihren Protest auf die Straße tragen.

Die Polizei umzingelte die Demonstranten, doch wendete keine physische Gewalt an

Die Polizei schien zumindest in der Nacht auf Montag die Zeichen der Zeit gehört zu haben. Sie umzingelte zwar die Demonstranten und separierte die Massen in kleinere Gruppen. Doch sie wendete keine physische Gewalt an und schien auch vor Verhaftungen zurückzuschrecken – wohl auch, weil die Leute keine direkte Kritik an Xi Jinping persönlich äußerten.

Anders hingegen in Shanghai, wo sich die wütenden Chinesen am Sonntag schon zum zweiten Mal in Folge in der ehemals französischen Konzession versammelten. Die Polizisten hatten bis zum Nachmittag bereits einen riesigen Bus mit Festgenommenen gefüllt. Auch ein BBC-Journalist wurde abgeführt, verprügelt und erst nach Stunden wieder freigelassen: Die Misshandlung von Edward Lawrence stellt einen neuen Tiefpunkt im Umgang des chinesischen Sicherheitsapparats mit ausländischen Reportern dar.

Bislang ist noch nicht abzusehen, wie ausdauernd der Zorn der chinesischen Volksseele sein wird. Doch es scheint, als ob seit dem Wochenende ein Damm gebrochen ist: Der Mut einiger weniger inspiriert viele weitere, es ihnen gleichzutun. Die chinesische Jugend hat zwar schmerzhaft lernen müssen, dass ein Einzelner in diesem System nicht viel ausrichten kann. Doch nun erfährt sie, dass man gemeinsam vereint eine mächtige Stimme hat. Millionen posten plötzlich in einer bisher nie dagewesenen Geschwindigkeit kritische Videos in den sozialen Medien, sodass die Zensoren kaum mehr nachkommen. Dabei sind auch Liedzeilen von Pink Floyd zur Hymne derjenigen geworden, die sich keine Bevormundung der Partei mehr wünschen: „We don’t need no education, we don’t need no thought control.“

Die offiziellen Staatsmedien versuchen bereits, ihre alten Rezepte anzuwenden: Sie sprechen von „ausländischen Kräften“, die die Demonstrationen organisieren würden, oder tun die Proteste als eine „fehlgeleitete Minderheit“ ab. Doch viele Chinesen haben das perfide Spiel der staatlichen Propaganda durchschaut: Sie wollen weiter auf die Straße ziehen.