Neuer Horrorfilm von David Cronenberg: Vom Zwang, sich neu zu erfinden

David Cronenberg philosophiert in seinem dystopischem Film „Crimes of the Future“ über den Menschen als Herrn und Opfer seiner Schöpfung.

Drei Schauspieler:innen in einer Filmszene.

Caprice (Léa Seydoux), Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Timlin (Kristen Stewart) Foto: Weltkino

Was wäre, wenn sich der Mensch nicht mehr infizieren könnte? Wenn unseren Körpern weder Bakterien noch Viren etwas anhaben könnten und damit ein Großteil an Bedrohungen unserer Gesundheit einfach wegfallen würde? Wenn wir obendrein keinen physischen Schmerz mehr empfinden müssten?

Die indirekte Antwort, die in David Cronenbergs in der nahen Zukunft angesiedeltem sonderbaren Gedankenspiel durchklingt, lautet: Nach neuen Extremen, nach neuen physischen und psychischen Grenzerfahrungen suchen, nachdem das neue Normal die alten obsolet gemacht hat. Und, selbstredend, das neue Normal weiter optimieren.

Seinem ersten Film seit acht Jahren legt das Regie-„Enfant terrible“ ein Menschenbild zugrunde, das sich zuerst durch seine Unbeständigkeit auszeichnet, durch den Willen, vielleicht sogar den Zwang, sich fortwährend selbst zu gestalten und neu zu erfinden. Einen Endpunkt, auf das sich sein Streben richtet, kennt er nicht. Der Fortschritt selbst ist das Ziel, eine Vorstellung, worin er bestehen soll, gibt es nicht.

„Erlaubt ist, was gefällt“, oder noch treffender: „Getan wird, was machbar ist“, scheint daher die Maxime von Saul Tenser (Viggo Mortensen) und Caprice (Léa Seydoux) zu lauten. Das von der höheren Bedeutung seiner Arbeit überzeugte Künstlerpaar ist Dreh- und Angelpunkt des irgendwo zwischen Science-Fiction und Horror changierenden Films „Crimes of the Future“.

„Crimes of the Future“. Regie: David Cronenberg. Mit Léa Seydoux, Kristen Stewart u. a. Kanada/Frankreich/Griechenland/Großbritannien 2022, 108 Min.

Bei Saul ist das ominöse „beschleunigte Evolutionssyndrom“, das verantwortlich ist für die neue Resistenz des menschlichen Körpers, besonders stark ausgeprägt. Das und angeblich sein eigener starker Geist führen dazu, dass ihm ständig neue Organe wachsen, die keinerlei Funktion besitzen. Mit erkennbarer Lust am Spiel mit dem Tabubruch entfernt Caprice sie ihm, im Rahmen ihrer Shows vor einem offenbar mindestens so faszinierten wie entsetzten Publikum.

Kunst auf dem Seziertisch

Für ihre Performance nutzen sie eine Art automatisierten Seziertisch, der wie eine unheilvolle Kreuzung aus dem biomechanischen Stil der Skulpturen von HR Giger und den seltsam lebendig wirkenden Kreationen aus tropfenden, sich windenden Schläuchen von Mira Lee wirkt. Originell sind derlei Designs allemal – überraschend ist allerdings, wie minderwertig die Ausstattung, auch so manche Spezialeffekte mitunter wirken.

Die Illusion der ebenso makabren wie maroden Welt, in die „Crimes of the Future“ versetzt, wird durch die bisweilen irritierende Qualität des Produk­tionsdesigns allerdings nicht zunichtegemacht. Davor weiß die für den kanadischen Filme­macher typische Dichte an Ideen zu bewahren, die vor allem durch wohlplatzierte Glaubensgrundsätze wie „Body Is Reality“, mehr noch durch die ebenfalls Cronenberg-typischen anziehend-seltsamen Dialoge transportiert wird.

In einer Schlüsselszene etwa tritt Timlin (Kristen Stewart), eigentlich eine Ermittlerin des „National Organ Registry“, die Sauls Kunst durchaus kritisch gegenüberstehen müsste, an ihn heran und fragt mit erkennbarer Erregung in der Stimme, ob Operationen der neue Sex seien. Nach seiner Erwiderung, ob sich denn immer alles nur darum drehen müsse, fügt sie fiebrig hinzu, dass sie sich beim Anblick der Performance gewünscht habe, von Saul aufgeschnitten zu werden.

Initmität der kleinen Schnitte

Tatsächlich ist der „alte Sex“ in „Crimes of the Future“ so gut wie ausgestorben. Später ist als eine neue, radikalere Form vermeintlicher Intimität zu sehen, wie eine Maschine mithilfe zahlreicher Skalpelle den Körpern von Caprice und Saul, nackt und eng umschlungen, unzählige kleine Schnitte zufügt.

Was zunächst wie ein ausgesprochen abstruser Einfall wirkt, fügt sich nach und nach in eine Lesart des Films als eine dystopisch aufgeladene Beschreibung unserer Gegenwart ein: Der Mensch läuft Gefahr, sich durch die von ihm selbst hervorgebrachte Technik zu entfremden. Zumindest hat sie klare Auswirkungen auf die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen.

Das erinnert an Ideen wie das „Metaverse“, die „Facebook“-Gründer Mark Zuckerberg als technologische Möglichkeit anpreist, uns einander näherzubringen verspricht und dabei doch nur eine digitale Parallelwelt meint, in der man sich niemals ganz unmittelbar begegnet.

Der Mensch läuft Gefahr, sich durch die von ihm selbst hervorgebrachte Technik zu entfremden.

Doch ebenso wie das „Metaverse“-Konzept ausgerechnet während der Pandemie, die durch den Einfluss der Massentierhaltung als menschengemachte Krise gilt, als ein Weg, die negativen Folgen unseres Lebensstils – den zeitweisen Zwang zur Isolation – auszubügeln, an Attraktivität gewann, kann man auch im Cronenberg’schen Operationskult einen Versuch des Menschen sehen, mit selbst herbeigeführten Problemen zurechtzukommen, sie zu kontrollieren, sich über sie zu erheben.

Aus der Not wird eine Tugend

Denn wie Caprice an einer Stelle erklärt, ist das „beschleunigte Evolutionssyndrom“ letztlich etwas Pathologisches. Etwas, das nichts anderes als den Zusammenbruch des Organismus bedeutet. Ihre Kunst ist dann wiederum eine Möglichkeit, diesem seine Organisation zurückzugeben.

Sonst sei das, was Sauls Körper produziere, all die nutzlosen Organe, wie sie sagt, nicht mehr als „Designer-Krebs“. So wird aus der Not eine Tugend, wenn Saul sich einen Reißverschluss in seiner Bauchdecke anbringen lässt, um bei einem Wettbewerb für „innere Schönheit“ anzutreten, wobei selbstredend nicht der Charakter, sondern ganz wortwörtlich sein Innenleben gemeint ist.

Wie nah eitle Selbstoptimierung und schierer Anpassungszwang beieinanderliegen, wird durch das Handlungselement einer im Geheimen experimentierenden Bewegung am deutlichsten. Deren Mitglieder haben durch aufwendige Operationen die Fähigkeit erlangt, Plastik zu verdauen.

Industriemüll verspeisen

Ihr Anführer (Scott Speedman) bietet Saul die Leiche seines Sohnes, der die biologische Veranlagung von seinem Vater geerbt hat und zu Beginn des Films durch seine eigene Mutter ermordet wurde, für eine öffentliche Autopsie an. Die Idee: den Zuschauern einen Weg in die Zukunft aufzeigen, in der der Mensch die zum Problem gewordene Menge an Industriemüll loswird, indem er sie einfach selbst verspeist.

Dass Cronenberg den Film, wie so oft, in einem abrupten Ende münden lässt, ist zunächst empörend unbefriedigend. Und doch ist es wahrscheinlich das Fehlen eines echten abschließenden Finales, was dazu führt, dass die erzeugten Eindrücke nachhallend erst ihre volle Wirkung entfalten.

Infektiös anmutende Filme, deren mitunter verstörende Bildwelten sich, ob man nun will oder nicht, im Gedächtnis seines Publikums einnisten, sind seit jeher die Spezialität des seit mehr als 50 Jahren im Geschäft tätigen Cronenbergs. „Crimes of the Future“ wurde als eine Rückkehr zu seinen Wurzeln, und damit auch zum „Body Horror“, jenem Genre, das er wie kein Zweiter prägte, angekündigt.

Cronenbergs Werke

Gemeint sind damit Filme von „Die Brut“ (1979), in dem dämonische Kinder als Fleischgewordene Wut der eigenen Mutter auftreten, oder „Videodrome“ (1983), in dem ein Mann offenbar zu einer Art „Kassettenrekorder-Cyborg“ mutiert, bis hin zum 1996 erschienenen „Crash“, dessen Figuren durch Autounfälle sexuelle Erregung erfahren. Im Gegensatz zu jenen Werken, die zwar mittlerweile Kultstatus besitzen, bei ihrem Erscheinen aber mitunter Debatten anstießen, was im Kino gezeigt werden darf, und teils sogar indiziert wurden, muten seine Projekte aus den letzten Jahrzehnten, hauptsächlich psychologielastige Dramen und Thriller, beinahe zahm an.

Infektiös anmutende Filme, deren mitunter verstörende Bildwelten sich im Gedächtnis seines Publikums einnisten, sind seit jeher die Spezialität des seit mehr als 50 Jahren im Geschäft tätigen Cronenbergs

Vergleichsweise, wohlgemerkt. Denn obwohl etwa „Cosmopolis“ (2012) und „Maps to the Stars“ (2014), Cronenbergs zuletzt erschienene Filme, stärker in der Realität angesiedelt sind, unterwandern doch auch deren Figuren in ihrem Verhalten stets akzeptierte Sinnzusammenhänge, wirken absonderlich durch ein verqueres Verhältnis zu Lust und eine artifizielle Sprechweise.

Das Erstaunliche am Schaffen des Filmemachers ist, dass er ausgerechnet durch das Abstand­gewinnen zu den oberflächlichen Gegebenheiten unserer Gegenwart, durch das Umschiffen von alltäglichen Floskeln und Umgangsformeln in ihre Tiefen abtaucht, zu einem unbestreitbar wahren Kern vordringt.

Mit der Figur eines jungen, milliardenschweren Vermögensverwalters (Robert Pattinson), der in „Cosmopolis“ in seiner Limousine einen Tag lang sinnlos durch Manhattan mäandert, wird etwa über die absolute Messbarmachung der Zeit in Hundert-Milliardstel-Sekunden für einen noch höherfrequentierten Aktienmarkt, die schwindelerregend hohen Gewinne und damit über Reichtum als Selbstzweck der wenigen, der gleichsam die Welt aller nach seinen Spielregeln umgestaltet, reflektiert. Und damit über etwas, das kurz nach der Finanzkrise einen Nerv traf.

„Maps to the Stars“ lässt sich wiederum am besten als sardonische Hollywood-Satire verstehen. Wäre der Film nicht erst 20 Jahre nach der ursprünglichen Idee verwirklicht worden, hätte auch der beißende Spott auf abgehobene Stars und solche, die es gerne wären, zu Zeiten des besonders absurden Starkults in den Neunzigern und frühen Zweitausendern einen Finger in die Wunde gelegt.

Für „Crimes of the Future“ gilt das Gegenteil: Laut Cronenberg hat er das Drehbuch bereits vor zwei Dekaden verfasst. Dass der Film zu einer Zeit erscheint, in der Studien belegen, dass wir Mikroplastik bereits im Blut tragen, kann man nur als herausragendes Timing bezeichnen.

Eine bloße Rückkehr zu den Anfangszeiten ist der Film trotzdem nicht. Vielmehr erwächst aus den beiden Schaffenslinien seiner Karriere, dem blutig-provokanten Spektakel des Anfangs und dem etwas feinsinniger vorgebrachten Ahnungsdrang der vergangenen Dekade, eine spektakuläre Symbiose. Oder um im Cronenberg’schen Kosmos zu bleiben: eine absonderliche neue Mutation, die mindestens so fasziniert, wie sie abstößt.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.