Sie werden nicht müde in Halle

Zum dritten Mal jährt sich das rechtsextremistische Attentat von Halle. In der Stadt gab es am Sonntag viele Gedenken – denn nicht je­de:r zieht dieselben Schlüsse

Im Hof der Synagoge Halle wurden am Sonntag Steine am Denkmal für die Opfer des Terroranschlags niedergelegt Foto: Fo­to:­Hen­drik Schmidt/dpa

Aus Halle Pia Stendera

In einem sind sich alle einig: Dieses Datum, der 9. Oktober, gehört vor allem zwei Menschen: Jana L. und Kevin S. Vor drei Jahren, es war ein Mittwochmittag, versuchte ein Rechtsextremist die Synagoge in Halle zu stürmen und schoss in dem nahegelegenen Kiez-Döner um sich. Jana L. und Kevin S. starben an seinen von Hass geleiteten Kugeln. Ihnen gilt das Gedenken.

Und doch gibt es zu diesem Tag verschiedene Orte und Formen des Gedenkens: Da sind das zentrale Gedenken der Stadt Halle mit der jüdischen Gemeinde an deren Synagoge, eine Veranstaltung beim Tekiez, dem früheren Kiez-Döner, verschiedene Kundgebungen und das Festival of Resilience vom jüdischen Verein Hillel.

Am Sonntag, kurz vor 12 Uhr, steht die Holztür zum Synagogengelände weit offen und doch kommen nicht alle hinein. Es sind mehr Menschen gekommen, als der Vorplatz der Syna­goge fassen kann. „Genau vor drei Jahren fand hier draußen, ungefähr 10 Meter vom Platz wo wir stehen, eines der schlimmsten Ereignisse im Leben von vielen von uns statt“, sagt der Gemeindevorsteher Max Privorozki. Er appelliert, an diesem Tag keine politischen Forderungen zu stellen. Doch die vergangenen Jahre haben gezeigt: Für manche ist eben dieser Jahrestag einer der wenigen Tage, an denen sie Gehör finden.

600 Meter weiter, 13 Uhr. Im Tekiez sind die runden Café­tische zusammengeschoben. Um sie sitzen Betroffene des Attentats, Un­ter­stüt­ze­r:in­nen und die Landesopferbeauftragte Gabriele Thelen bei Çay und Kaffee zusammen. Sie sprechen nicht über das, was vor drei Jahren passierte. Sie sprechen über das, was seitdem passierte: über psychische Belastungen und den Umbau des Dönerimbiss zum Café. Sie sprechen über das was nicht passierte: Unterstützung durch die Stadt Halle.

„Einen Kaffee hier zu trinken, hat hier mehr Bedeutung als ein normaler Kaffee. Er hilft zu erinnern und weiterzumachen“, sagt İsmet Tekin, Eigentümer des Tekiez der Opferbeauftragten. „Das ist kein normaler Laden. Er hat Bedeutung für die Demokratie.“ Noch im vergangenen Jahr hing vor dem Fenster des Tekiez eine politische Forderung: „Kein Gedenken ohne Betroffene“. An diesem Tag ist in und vor dem Laden genau dafür Raum.

Vor dem Tekiez, 14 Uhr. Fünf junge Menschen in Jogginghose blicken auf Blumenkränze der Stadt Halle, dem Land Sachsen-Anhalt, dem türkischen Generalkonsulat. Einer löst sich aus der Gruppe und geht auf einen Unterstützer des Tekiez zu. „Habt ihr eine Kerze oder so, damit wir irgendwas haben? Wir sind Freunde von Kevin.“ Er zieht seine Gürteltasche von der Brust und zeigt auf seinen Pullover. Darauf ist das Symbol des Halleschen FC, Kevins Fußballverein. Einige Augenblicke später liegen fünf Teelichter in den Händen des Mannes. Eins für jeden der Freunde.

Ein Mann baut derweil Boxen vor dem Laden auf. Durch sie tönen später am Nachmittag die Worte Betroffener rechter Gewalt – von Überlebenden und Hinterbliebenen aus Halle, Hanau, München, Mölln, Duisburg, Hamburg, Nürnberg, Köln. Hunderte Menschen hören ihnen zu.

„Natürlich seid ihr müde. Ich bin müde. Aber meine Freunde, ‚müde‘ ist ihr Ziel. Lasst es nicht unseres sein“, sagt Rebecca Blady, Überlebende aus der Synagoge in Halle.

„Habt ihr eine Kerze oder so?“, fragt ein Mann. Er sei ein Freund von Kevin

„Heute sind wir hier in Solidarität mit euch, so wie ihr oftmals bei uns in Hanau wart. Der Schmerz verbindet uns“, sagt Serpil Temiz Unvar, Mutter von Ferhat Unvar, der 2020 in Hanau ermordet wurde. „Wir müssen laut sein. Nur wenn wir laut sind, wird sich etwas ändern. Erinnerung heißt Veränderung.“

„Liebe Familie L., liebe Familie S., meine Gedanken und mein Herz sind heute bei euch. Es gab viele Betroffene und Überlebende in Halle. Euer Schmerz ist mein Schmerz. Fühlt euch nicht allein“, sagt Aynur Satir, Überlebende des rassistischen Brandanschlags 1984 in Duisburg.

„Was mir Stärke gibt, sind Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, die immer wieder unermüdlich weiterkämpfen, Widerstand leisten und ihre Geschichten erzählen. Was ich mir für die Zukunft wünsche, ist, dass wir ein riesengroßes Netzwerk haben, wo wir gemeinsam intervenieren dürfen“, sagt İbrahim Arslan, Überlebender der rassistischen Brandanschläge 1992 in Mölln.

Die Betroffenen sprechen längst nicht mehr als Opfer. Sie sprechen über Zusammenhalt und Kraft, Solidarität und Resi­lienz. Sie sprechen als Verbündete von Janas und Kevins Angehörigen und allen Betroffenen rechter Gewalt. Dieses Netzwerk, von dem İbrahim Arslan spricht, gibt es. Und es ist, so scheint es an diesem Tag, längst stärker als die Taten, aus denen es gewachsen ist.