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Hintergründe der Stadionkatastrophe„Ein Fass, das übergelaufen ist“

Andrin Brändle ist Kenner des indonesischen Fußballs. Der Schweizer spricht über die Stadionkatastrophe von Malang, Ultras und strukturelle Gewalt.

Der Tag der Tragödie: 131 Menschen sterben in einem Stadion in Ost-Java Foto: ap
Interview von Markus Völker

taz: Herr Brändle, halten Sie die indonesische Liga für die gefährlichste der Welt?

Andrin Brändle: Ich bin grundsätzlich kein Fan von pauschalisierenden Aussagen, aber es ist schon so, dass in Indonesien bei Tumulten immer wieder Menschen zu Tode kommen. Das passiert leider.

Beim Spiel von Arema Malang gegen Persebaya Surabaya sind vor einigen Tagen über 130 Menschen, darunter viele Jugendliche, gestorben nach Platzsturm und Tränengas-einsatz der Polizei. Es hat aber auch schon vor dieser Tragödie in jeder Fußballsaison Tote gegeben. Der ehemalige deutsche Torwart Lutz Pfannenstiel, der Ende der 90er Jahre fast einmal indonesischer Nationaltorhüter geworden wäre, sagte einmal, es würden jedes Jahr über 100 Menschen in indonesischen Stadien sterben. Das war übertrieben, aber es geht anders zu als in Europa.

Ja, und diese Vorfälle werden auch anders gewichtet. Wir sehen es daran, dass es am Mittwoch schon wieder ein Qualifikationsspiel der indonesischen U17-Auswahl gegen die Vereinigten Arabischen Emirate gegeben hat. Das wäre in Europa undenkbar, wenn zum Beispiel in Deutschland drei Tage vorher so viele Leute zu Tode gekommen wären. Ich glaube nicht, dass der DFB in so einer Situation wieder gegen den Ball treten ließe.

Ein Menschenleben ist in Indonesien offensichtlich weniger wert, die Auseinandersetzung mit dem Tod im Stadion ist kein abstraktes Thema, sondern real. Hinzu kommt, dass Politik und Justiz in Indonesien nicht viel von den Fußballfans halten. Die Politiker und Funktionäre wollen sich über den Fußball in der Welt profilieren, Stichwort U20-WM im kommenden Jahr, der einfache Fan aber wird schnell übergangen. Es fehlen die Kapazitäten, es fehlt das Know-how, um den Todesfällen, ja den Morden unter rivalisierenden Fangruppen nachzugehen, sie aufzuklären und investigativ aufzuarbeiten.

Unter welchen Umständen fand das Spiel zwischen Malang und Surabaya statt?

Das ist das Derby im Osten Javas, der Hauptinsel. In Indonesien gibt es vier große Klubs: Persija Jakarta, Persib Bandung, Arema Malang und Persebaya Surabaya. Das Spiel hat etwas außerhalb von Malang stattgefunden, in Kepanjen. Die Anwesenden haben die erste Heimniederlage von Arema im Derby seit 23 Jahren vor eigenem Publikum erlebt. Das hatte nicht nur damit zu tun, dass die immer gut gespielt haben, sondern Schiedsrichterentscheidungen werden getroffen, um Menschenmassen im Zaum zu halten. Meine Erfahrung war: In jedem großen Spiel, das ich in Indonesien besucht habe, hat es einen Elfmeter fürs Heimteam gegeben.

Alle Beteiligten sind zufriedener, wenn sie nicht mit Tumulten rechnen müssen. Das Spiel von Malang gegen Surabaya endete 2:3, es fand unter Flutlicht statt. Der Gast hat vergeblich versucht, die Partie auf den Nachmittag zu verlegen. Dann kommt hinzu, dass grundsätzlich mehr Tickets verkauft werden als erlaubt. Das verschärft die Situation bei Massenpaniken in Stadien, die infrastrukturell suboptimal ausgelegt sind.

Das Stadion in Kepanjen fasst nach offiziellen Angaben 38.000 Zuschauer, es sollen sich aber weit über 40.000 in der Arena aufgehalten haben. Nach der sich abzeichnenden Heimniederlage kam es zum Platzsturm. Die Polizei hat dann relativ rigoros den Innenraum freigeprügelt. Da waren teilweise brutale Szenen von Polizisten zu sehen, die Fans mit Kung-Fu-Tritten niederstreckten. Dann schoss die Polizei massiv Tränengas auf die Ränge. Die Zuschauer wollten fliehen, aber die Ausgänge waren versperrt.

privat
Im Interview: Andrin Brändle

Der 25-Jährige begleitete im Jahr 2019 indonesische Fußballfans des Erstligaklubs PSS Sleman drei Monate lang und wurde dabei selbst Zeuge von massiven Stadionausschreitungen. Er ist Autor eines Buches über den indonesischen Fußball („Ein Sommer mit Sleman“, B&P Verlag) und referiert zum Thema „Fankultur in Indonesien“. Die Katastrophe von Malang ist nicht die erste in einem Stadion: 1964 starben in Lima 328 Menschen, 1989 in Sheffield 97 Fußballfans und im Jahr 2001 in Ghana 126. Die Liste ließe sich fortführen.

In diesem Fall muss man auch relativierend sagen, dass das Gewaltpotenzial dieser Leute, die da aufs Spielfeld gestürmt sind, enorm ist. Sie haben in den meisten Fällen keine Strafverfolgung zu befürchten. Da geht es auch nicht nur darum, dem Polizisten einen Stein an den Helm zu werfen, sondern manchmal um mehr. Die Polizisten werden zum Feind auserkoren und hart attackiert. Das sind wilde Szenen, die man regelmäßig sieht. Die schlecht operierende indonesische Polizei ist schwer bewaffnet.

Sie hat scharfe Waffen, Reizgas, das in Stadien nach Fifa-Regularien grundsätzlich verboten ist. Problematisch waren in der Tat die geschlossenen Ausgänge. Zudem haben wir in Malang etwa vier Meter hohe Zäune, die von einem gewalttätigen Randalierer problemlos überwunden werden können, aber nicht von einem Kind oder einer Frau im Tränengasdampf.

Sie haben 2019 über mehrere Monate Fans des indonesischen Erstligisten PSS Sleman begleitet, konkret die Gruppierung Brigata Curva Sud. Haben Sie damals ähnliche Szenen erlebt?

Bei Spielen von Sleman habe ich das Glück gehabt, dass es nie zu einer derartigen Situation gekommen ist. Doch ich habe nebenbei noch Spiele erlebt, wo es zu Ausschreitungen kam und mehrere Menschen den Tod gefunden haben. Ich war stets als Fotograf am Spielfeld. Da ist mir bewusst geworden, wie wenig es braucht, damit ein friedliches Fußballspiel in ein totales Chaos mündet. Salopp gesagt, habe ich gedacht, naja, die Indonesier, die sind alle einen Kopf kleiner als ich, da kann ich mich auch in schwierigen Momenten zurechtfinden.

Aber ich habe da zum ersten Mal Angst gehabt. Zur schlechten Stadioninfrastruktur kommt die schlechte Koordination der Polizei hinzu – und die rohe Gewalt der Randalierer. Das ist eine krasse Mischung. Erlebt habe ich auch diese Lynchjustiz; ausgebrannte Polizeiautos hat es auch jetzt wieder gegeben. So etwas wie in Malang multipliziert die Wut auf die Obrigkeit.

Die indonesischen Fußballfans zitieren seit den 90er Jahren die italienische Ultra-Kultur und leben sie radikal aus. Was macht die Fankultur in dem Inselstaat aus?

Mit der Brigata Curva Sud haben wir den Pionier, was das Ausleben der Subkultur Ultra in Indonesien angeht, sie wurde 2011 gegründet, und das geht noch auf den Einfluss aus den 90er Jahren zurück, denn die italienische Serie A war die erste Liga, die ihre Fernsehrechte nach Indonesien verkauft hat. Die Fans von Arema nennen sich selbst Aremania und gelten als nicht weniger fanatisch als die Ultras. Die Aremania sind ein loser Zusammenschluss, da haben wir nicht diese Strukturen, wie man sie aus Ultra-Kreisen kennt.

In Malang ist die Aremania bestimmend, und da könnten auch Sie und ich mitmachen. Wenn der Ultra-Vorsänger in Sleman sagt ‚Ruhe‘, dann ist auch Ruhe, und die Leute gehorchen. Die Aremania hat abertausende Vertreter, die dann im Stadion schon erpicht sind, gemeinsam zu singen oder zu tanzen, aber es gibt kein klares Subordinationsverhältnis gegenüber einem Vorsänger.

Was hat Sie eigentlich nach Indonesien gezogen?

Die italienische Prägung, die ist für Leute, die sich für Subkulturen interessieren, reizvoll. Mich interessieren die Kreativität und das unbändige Element in den Fankurven. Ich habe mich auf die Suche gemacht, weil ich das auch erleben wollte. In Indonesien bin ich fündig geworden. Die Indonesier sind Europäern gegenüber recht offen. Sie freuen sich, dass man sie besuchen kommt. Wenn ich die gleiche Reportage über den Fußball in Polen machen würde, dann würde es Jahre brauchen, bis ich überhaupt an die Leute rankomme. In Deutschland wäre es ähnlich.

Sie haben also schnell ein Näheverhältnis herstellen können?

Ich wollte in aller Zurückhaltung dokumentieren, ohne Sonderbehandlung. Das ist ziemlich gut angekommen. Ich bin jetzt wieder von einer Urlaubsreise aus Indonesien zurückgekommen. Und wenn ich ein bisschen länger geblieben wäre, hätte ich mir auch die Partie in Malang angeschaut. Für mich ist das alles ein bisschen surreal, weil man das spezielle Umfeld schätzt mit übervollen Stadien und Flutlichtspielen, die anders sind als in Europa. Es gibt bis auf den letzten Platz gefüllte Ränge, und die Leute schreien sich die Lunge aus dem Leib, während sie auf Zäunen sitzen. Aus voyeuristischer Sicht spannend und interessant.

Aber eben auch eine Gratwanderung. Einerseits sind Sie auf der Suche nach Authentizität und Versatzstücken der Ultra-Kultur, andererseits ist dieses schlummernde Gewaltpotenzial ständig vorhanden – und drängt auf Entladung.

Es hat mich daher nicht überrascht, dass diese Katastrophe passiert ist. Den Fans ist bewusst, dass sie ein gefährliches Hobby ausüben. Ein Fass, das irgendwann überlaufen musste – so kann man die Lage beschreiben.

Dieses wilde Element findet sich nicht nur in der Fankultur, sondern auch im Verwaltungsapparat. Die Fifa hat den indonesischen Fußballverband abgestraft, wegen politischer Einmischung. Es gibt Korruption und Wettbetrug. Es gab auch immer wieder Liga-Umstrukturierungen.

Staatliche Institutionen haben sich wiederholt in die Machenschaften des Verbands eingemischt. Das ist ein Grundsatzproblem. Immer wieder gibt es Leute, die sich des Fußballs bemächtigen in einem Ausmaß, das in Deutschland unvorstellbar wäre. Wenn so etwas bei Ihnen passieren würde, hätte sich spätestens nach zwei Wochen ein Fanbündnis zusammengefunden, das dagegen vorgeht. Das passiert natürlich nicht in Indonesien.

Wird die Fifa angesichts all dieser Vorgänge die U20-WM in Indonesien abhalten?

Indonesiens Präsident Joko Widodo wird alles daran setzen. Der G20-Gipfel steigt ja auch im November auf Bali. Indonesien hat 2018 die Asien-Spiele über die Bühne gebracht. Ich bin gespannt.

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