Der Wert der Musik

Erst ideologischer Streit, Anfeindungen und Starkregentage, schließlich doch Stile und Genres, die um die Welt wandern: auf dem internationalen Musikfestival Nyege Nyege in Uganda

Die Nyege Nyege Tapes sind ein wichtiger kultureller Player in Uganda. Szene vom Festival Foto: Claudia Lacave/Hans Lucas/afp

Von Ole Schulz

Promiskuität, Drogenmissbrauch und „Transgender-Umerziehung“: Fast wäre das Festival Nyege Nyege in Uganda rechter Propaganda zum Opfer gefallen. Eine Reihe von Po­li­ti­ke­r:in­nen trachtete danach, es aus diesen Gründen noch kurz vor Beginn verbieten zu lassen. „Wir können unsere Moral nicht opfern, nur weil so viele Tickets verkauft wurden“, hieß es in einem Statement.

Doch der ugandische Tourismusminister Martin Mugarra Bahinduka verteidigte die Veranstaltung sogleich mit dem Hinweis, dass die vielen ausländischen Gäste auch Bares ins Land bringen würden. Tausende Eintrittskarten wurden vorab verkauft. Am Ende steigt das Festival also dennoch – der ideologische Streit um Nyege Nyege zeigt allerdings, wie stark der Einfluss der von US-Sekten geförderten Evangelikalen auch in Ostafrika wächst.

Die vier Tage an den Gestaden des Nils werden, alles in allem, zu einer so denkwürdigen wie strapaziösen Erfahrung. Das Gelände des Festivals ist traumhaft gelegen. Direkt vor den Stromschnellen der Itanda-Wasserfälle, wo der Nil eine fast kreisrunde Bucht bildet, liegt das neue riesige Festival­areal im satten Grün auf Hügeln, unweit der Quelle des Nils im Victoriasee. Das gemeinsame morgendliche Bad im Fluss wird zum Ritual.

Die Ver­an­stal­te­r:in­nen sind leider etwas überfordert. Zudem tragen zwei Starkregentage unmittelbar vor dem Start zu den organisatorischen Schwierigkeiten bei. Viele der Gästeunterkünfte waren nicht rechtzeitig fertig geworden, es fehlt an Toiletten und Mülleimern, zunächst gibt es nicht mal fließend Wasser. Die Sicherheitsvorkehrungen sind unzureichend, auf dem Gelände kommt es zu zahllosen Diebstählen und einigen gewalttätigen Überfällen.

Es macht den Eindruck, als ob dem 2015 vom tansanischen Label Nye­ge Nye­ge Tapes gegründeten Underground-Festival, das sich experimenteller elektronischer Musik aus Ostafrika verschrieben hat, nach zwei Coronajahren der Sprung in die nächste Dimension noch nicht richtig gelungen ist; gleichzeitig sind die meisten Ugander:innen, die man auf dem Festival kennenlernt, ungemein freundlich. Vielleicht muss man es im Nachhinein auch so sehen wie Kevin aus dem Produktionsteam des Festivals: „The mess brought fun“, sagt er und lacht.

Alle sind von den Komplikationen betroffen, gleich, ob von fern angereiste Weißbrote, afrikanische Gäste aus Nachbarländern oder eingeladene Künst­le­r:in­nen aus aller Welt. Darunter rund 30 Mu­si­ke­r:in­nen und Tänzer:innen, die am Afropollination-Projekt beteiligt sind. Bei dieser Kooperation geht es um gegenseitige künstlerische Befruchtung: Deutsche Künst­le­r:in­nen und solche aus zahlreichen afrikanischen Ländern sind vor und nach dem Festival zu Gast in der Nyege-Nyege -„Villa“ der Hauptstadt Kampala: Es ist ein ständig überfülltes Community-Haus mit Patio, kleinen Studios und schlichten Gästezimmern mit Stockbetten.

Finanziert mit Mitteln aus dem Turn-Fonds der Kulturstiftung des Bundes, der Projekte zwischen Deutschland und Afrika fördert, kooperieren Piranha Arts aus Berlin und Nyege Nye­ge Tapes aus Kampala beim Afropollination-Projekt; das Label hat mit seinen Veröffentlichungen abenteuerlicher afrofuturistischer elektronischer Sounds längst Kultstatus – und die eigene Villa in Kampala ist eine der wenigen sicheren Orte für die LGBTQ-Szene des Landes.

Während des Festivals geht diese freigeistige und rebellische Attitüde etwas verloren. Zu viel Fläche wird Sponsoren wie Smirnoff, Coca-Cola und der ugandischen Brauerei Bell eingeräumt – auch wenn ihre Soundsystems fetter sind als die von Nyege Nyege Tapes betriebenen. Der Spagat zwischen Kommerz und Subkultur gelingt nicht so richtig.

Derek Debru, einer der beiden Nyege-Nyege-Gründer, freut sich dennoch, dass alles „ohne größere Katastrophen“ abgelaufen sei, und betont: „Der Eintrittspreis für die lokale Bevölkerung ist absichtlich niedrig, damit ihn sich alle leisten können.“ Ein Teil der Tickets sei sogar verschenkt worden, um eine möglichst sozialinklusive Veranstaltung zu ermöglichen; in einem Land wie Uganda mit seinen extremen Klassenunterschieden gebe es das sonst nicht.

Musikalisch sind viele magische Momente zu erleben. Die spannendsten – und düstersten – Auftritte finden auf einer versteckten „Dark Star“-Bühne mitten im Wald statt. Gqom-Sound aus Südafrika, der wie ein ewiges, scheinbar direkt ins Inferno führendes Keuchen klingt, wird nicht nur vom famosen DJ MP3 aus Durban dargeboten, sondern auch vom japanischen Kollektiv TYO Gqom. Ein gutes Beispiel dafür, wie schnell Genres und Stile inzwischen um die Welt wandern. So spielt der Nyege-Nyege-Künstler Chrisman aus dem Kongo ein Set, in dem er brasilianischen Baile Funk ebenso selbstverständlich aufgreift wie angolanischen Tarraxinha, der Kizomba mit Trap verbindet.

Die spannendsten – und düstersten – Auftritte finden auf einer versteckten Bühne mitten im Wald statt

Zurecht begeistert sind alle von den Singeli-Jungs aus Tansania: Sisso, Maiko und DJ Travellah spielen ­Hochgeschwindigkeitssound in Endlosloops auf billigen Laptops und PC-Tastaturen. Ihre Musik hat eine treibende punkige Energie, die Euro-Gabba geradezu altbacken aussehen lässt. Auf einer ähnlich hohen BPM-Zahl bewegen sich interessanterweise die Balafon-Kaskaden von Diaki aus Mali von der westlichen Ecke des riesigen Kontinents. Das wachsende Interesse afrikanischer Künst­le­r:in­nen an Metal, Noise und anderen drastischen Spielarten ist eine der überraschenden Entwicklungen. Derek Debru sagt: „Überall in Afrika gibt es Kids, die verstanden haben, dass ihre musikalische Identität einen internationalen Wert hat und dass es möglich ist, auch als musikalischer Außenseiter seinen Lebensunterhalt zu verdienen.“

Wen man beim Festival wann zu sehen bekommt, bleibt dem Zufall überlassen, ständig wird das Programm umgeschmissen. Frustrierend ist das für jene, die dabei vergessen werden. Haxan hat Glück: Der Auftritt des jungen Berliner Deutschtürken aus dem Afropollination-Projekt wird nach einem heftigen Regenschauer zunächst abgesagt, dann aber auf Mitternacht des letzten Festivaltages verlegt. Mit Industrial- und Hardcore-Rap kriegt der headbangende Haxan die Leute, und das mit deutschen Texten, aus denen Wut und Dringlichkeit sprechen.

Danach übernimmt eine Legende: Yamataka Eye, Mitbegründer der japanischen Noise-Band Boredoms, legt ein verzinktes Drum-’n’-Bass-Set hin, das einem das Gefühl gibt, man werde auseinandergeschraubt, wieder zusammengesetzt und neu geboren – ein Akt der rituellen Reinigung zum Abschluss, der einem die Anstrengungen der vorherigen Tage vergessen lässt.

Und die künstlerischen Kooperationen des Afropollination-Projekts werden weitergehen. 2023 werden sie in Deutschland fortgeführt: im Januar auf dem Schiff „MS Stubnitz“ in Hamburg, etwas später beim CTM-Festival in Berlin, schließlich im Juli in Dortmund.

nyegenyege.com/afropollination

Die Reise wurde teilweise vom Afro­pollination-Projekt finanziert.